Wem nützt der Terroranschlag von Istanbul?

Seite 2: Das verhasste "Jin, Jiyan, Azadi"

Ein nächster Krieg in der Region würde auch den Widerstand im Iran aus dem Fokus der Medien rücken und die iranische Freiheitsbewegung schwächen. Die Parole "Jin, Jiyan, Azadi" – "Frau, Leben, Freiheit" ist das Letzte, was Erdogan im Umbau des türkischen Staates zu einem autoritären, islamistischen Regime gebrauchen kann.

Der Ruf ist derzeit weltweit auf Demonstrationen gegen das iranische Mullah-Regime zu hören und wird mittlerweile auch in konservativen Kreisen, etwa von der CDU, als Sympathiebekundung für die Frauenproteste im Iran genutzt und beklatscht.

Dort unterschlägt man jedoch gerne die Urheberinnen der Parole, die kurdische Freiheitsbewegung. Am 8. März 2006 wurde "Jin, Jiyan Azadi" zum ersten Mal am Weltfrauentag in Istanbul von kurdischen Frauen gerufen. Die Parole wurde von den nordsyrischen Fraueneinheiten, den YPJ im Kampf gegen den "Islamischen Staat" übernommen, sowie im Widerstand gegen die türkische Invasion in Nordsyrien.

Aktuell ist es die Parole des Widerstands gegen das iranische Mullah-Regime. Die progressive kurdische Bewegung wird nicht nur im Nahen Osten von den totalitären Regimes wie der Türkei, dem Iran oder dem syrischen Regime des Terrorismus bezichtigt.

Auch in Deutschland werden Kurd:innen kriminalisiert, wenn sie sich für Frauen- und Minderheitenrechte einsetzen. Auch hier unterliegen linke kurdische Vereine einem Generalverdacht des Terrorismus. Ihnen wird unterstellt, die kurdische Arbeiterpartei PKK zu unterstützen, die in Deutschland auf Wunsch der Türkei seit den 80er Jahren auf der Liste der Terrororganisationen steht.

Niemand in den Führungsriegen der Politik, trotz verschiedenster wissenschaftlicher Gutachten oder Gerichtsbeschlüssen, hinterfragt, ob das noch zeitgemäß ist. Die Folgen hat die kurdische Community zu tragen: einer 18-jährigen deutschen Staatsangehörigen kurdischer Herkunft wurde zum Beispiel nach einem Familienbesuch in Istanbul der deutsche Reisepass eingezogen und die Wohnung ihrer Familie durchsucht.

Aus ihrem Familienbesuch in der Türkei in Istanbul wurde ein Waffentraining konstruiert, ohne irgendeinen Beweis für diese Behauptung vorzulegen. Weiter wird ihr vorgeworfen, an kurdischen kulturellen Aktivitäten, kurdischen Festen und Demonstrationen teilgenommen zu haben. Ihr wurde gesagt, sie verderbe die Beziehungen zur Türkei. Ihren Pass werde sie erst zurückbekommen, wenn die Behörden überzeugt seien, dass sie die zwischenstaatlichen Beziehungen nicht gefährde, hieß es.

Schon vor drei Jahren sollte das Jugendamt ihrer alleinerziehenden Mutter das Sorgerecht entziehen. Der Mutter von fünf Kindern, die seit 42 Jahren in Deutschland lebt, wurde vom Staatsschutz Kindeswohlgefährdung vorgeworfen, weil eine der Töchter an Demonstrationen der kurdischen Bewegung teilgenommen hatte. Obwohl das Jugendamt ausdrücklich keine Kindeswohlgefährdung feststellte, wurde ein Verfahren angestrengt, das mit einer Verpflichtungserklärung endete.

Diese beinhaltete, dass die Kinder wie bisher auch regelmäßig zur Schule gehen würden, nicht an verbotenen Versammlungen teilnehmen dürfen und sich im Rahmen von Versammlungen an geltende Gesetze halten müssen.

Ist es in Deutschland ein Verbrechen, sich zur kurdischen Identität zu bekennen und sich in kurdischen Kulturvereinen zu engagieren? Keine andere Community ist derartigen Repressionen und dem "Terrorismus -Framing" in Deutschland ausgesetzt.

Die Anthropologin Elif Sarican bringt die Verlogenheit unserer Politik in einem Video zu den Protesten im Iran auf den Punkt:

Die westlichen Staaten haben sehr enge Beziehungen zu Staaten wie der Türkei, in der die meisten Journalist:innen weltweit inhaftiert sind und die chemische Waffen gegen die Unterstützer:innen der Frauenbefreiung im Nahen Osten, gegen die kurdische Frauenfreiheitsbewegung, einsetzt. (...)

Eine der interessantesten und in mancher Hinsicht fast komischen Solidaritätserklärungen, die ich gesehen habe, war die der CDU in Deutschland, die ihre Unterstützung für "Jin, Jiyan, Azadi" erklärt hat, die ihre Unterstützung für die iranischen Frauen erklärt. Aber die CDU und die gesamte deutsche Regierung kriminalisieren die Freiheitsbewegung kurdischer Frauen in Deutschland. (…)

Wenn Frauen sich selbst retten, wenn sie sich selbst verteidigen, sei es gegen den türkischen Staat, sei es gegen den IS, dann ist das nicht akzeptabel.Wenn Frauen sich selbst retten, dann kriminalisieren und verurteilen sie das.


Elif Sarican

Giftgas gegen kurdische Stellungen

25.000 Menschen demonstrierten am Wochenende in Düsseldorf gegen den Giftgaseinsatz der Türkei im Nordirak. In Wien, Marseille, Bordeaux, London, Limassol, Oslo, Malmö, Helsinki und Thessaloniki – überall in Europa fanden an diesem Wochenende Demonstrationen und Kundgebungen statt.

Doch bei Politikern aller Parteien außer der Partei Die Linke herrscht ohrenbetäubendes Schweigen. Die Türkei-Beauftragte der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW und Allgemeinmedizinerin Gisela Penteker nahm im September an einer Delegation in den Nordirak teil, um den Vorwürfen des Giftgaseinsatzes der Türkei gegen mutmaßliche PKK-Stellungen im Nordirak nachzugehen, Bildmaterial zu sichten, Proben zu entnehmen und bewerten.

Sie berichtete auf der Demonstration und auf dem jesidischen Sender Cira TV über den im Oktober vorgelegten Bericht von IPPNW, welcher den Verdacht in Teilen erhärtet. Als Konsequenz wurde bereits eine unabhängige internationale Untersuchung gefordert.

Denn auch die Türkei unterzeichnete und ratifizierte die Chemiewaffenkonvention. Die Präsidentin der türkischen Ärztekammer (TTB), Sebnem Korur Fincanci, wurde im Oktober wegen öffentlicher Äußerungen zum Einsatz von Chemiewaffen durch das türkische Militär im Nordirak verhaftet. Ihr wird, wie üblich bei regierungskritischen Äußerungen, "Terrorpropaganda" vorgeworfen.

Die deutsche Bundesärztekammer forderte bereits Fincancis unverzügliche Freilassung. "Die Verhaftung von Fincanci stelle einen Angriff auf das Recht zur freien Meinungsäußerung und auf die ärztliche Selbstverwaltung dar." Die Ärztekammer Berlin und die Landesärztekammer Hessen forderten ebenfalls die Freilassung der international renommierten Rechtsmedizinerin. Fincanci setzt sich seit Jahrzehnten für die Menschenrechte ein und erhielt dafür 2018 den Hessischen Friedenspreis.

Die Bundesregierung sieht hingegen keinen Anlass für eine unabhängige internationale Untersuchung des Einsatzes von Chemiewaffen in den kurdischen Gebieten der Türkei und ihrer Nachbarländer durch türkisches Militär.

Die Antwort der Bundesregierung vom 3. November auf eine diesbezügliche Anfrage der Fraktion Die Linke lautete, die Türkei sei "wie die Bundesrepublik Deutschland Vertragsstaat des am 29. April 1997 in Kraft getretenen Abkommens über das Verbot Chemischer Waffen (CWÜ)". Bei ihrem Beitritt zum Abkommen habe die Türkei "keine Bestände chemischer Waffen deklariert" und unterliege als Vertragsstaat den Überwachungsmechanismen der Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OVCW).

Die Bundesregierung sieht auf Grundlage des gegenwärtigen Kenntnisstands keine Veranlassung, sich dem Vorschlag des IPPNW anzuschließen.


Aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Fraktion Die Linke

Nun ist es aber so, dass die OPCW (dt.: OVCW) nach eigenen Aussagen nur auf Antrag eines Mitgliedsstaates der Vereinten Nationen tätig werden kann. So spielt man sich gegenseitig die Bälle zu, um nicht tätig werden zu müssen. Dabei wurde die OPCW eigens dafür geschaffen, die Einhaltung der Chemiewaffenkonvention (CWÜ) der Vereinten Nationen zu überwachen.

2018 haben die Mitgliedsstaaten dann beschlossen, dass die Chemiewaffenbehörde nicht nur feststellen soll, ob illegale Substanzen bei Angriffen eingesetzt wurden, sondern auch, wer dafür verantwortlich ist.

Nach dem Willen der Bundesregierung soll Deutschland aber trotz "wertebasierter Außenpolitik" nicht der Mitgliedsstaat sein, der beantragt, dass die Organisation im Fall der Türkei tätig wird. Hinzu kommt nun, dass Ankara auf einen angeblich von der PKK begangenen Terroranschlag verweisen kann, um diejenigen, die ihr den Einsatz verbotener Waffen vorwerfen, international zu diskreditieren.