Wem nützt der Terroranschlag von Istanbul?

Europaweit demonstrierten am Wochenende Kurdinnen und Kurden, die der Türkei Chemiewaffeneinsätze vorwerfen. Foto: ANF

Der türkische Präsident muss um seine Wiederwahl fürchten. Die kurdische Community wirft ihm Chemiewaffeneinsätze vor und demonstriert europaweit. Erdogan selbst beschuldigt Schweden und Finnland, "Terroristen" zu unterstützen.

Am Sonntagabend erschütterte eine Explosion die belebte Konsummeile Istiklal im Istanbuler Bezirk Taksim. Sechs Menschen wurden getötet und mehr als 50 verletzt. Präsident Recep Tayyip Erdogan verhängte eine Nachrichtensperre und sprach von einem möglichen Terroranschlag.

Aber am Montagmorgen ist für ihn bereits klar: Es war die PKK/PYD/YPG. Das Dementi der PKK selbst und deren Erläuterungen, weshalb sie kein Interesse an solch einem Anschlag hat, interessiert natürlich weder Erdogan und seine gleichgeschaltete Presse, noch die Mehrheit der internationalen Presse.

Bekannt ist, dass 2016 auf derselben Straße ein Selbstmordattentäter, der dem "Islamischen Staat" zugeordnet wurde, vier Menschen in den Tod riss.

Eine kurz nach dem Anschlag vom Sonntag festgenommene junge Frau aus Syrien, angeblich mit Verbindungen zur PKK, soll nun bereits das jüngste Attentat gestanden haben – bei welchen Verhörmethoden und ob das Geständnis nach deutschem Recht verwertbar wäre, ist nicht bekannt.

Unstimmigkeiten und mögliche Motive anderer Täterkreise

In einer ersten Befragung soll sie zugegeben haben, im Auftrag der Arbeiterpartei Kurdistans die Bombe platziert zu haben. In die Türkei sei sie zuvor illegal über die Route Afrin-Idlib eingereist. Letzteres gilt als schwer bis unmöglich: "Beide Regionen im Nordwesten von Syrien sind besetzt und werden von türkischen Truppen und dschihadistischen Söldnergruppierungen kontrolliert", wird in einem Bericht der kurdischen Nachrichtenagentur ANF betont.

Zudem geht der Bericht darauf ein, wie der Anschlag in die internationale politische Großwetterlage passt und wer einen Vorteil davon hätte: Die PKK stehe aktuell im Mittelpunkt des Streits um Nato-Mitgliedschaftsanträge Schwedens und Finnlands. Die Führung in Ankara wirft vor allem Schweden vor, ein "Zufluchtsort für Terroristen" zu sein und verzögert damit seit Monaten den Beitritt der beiden nordeuropäischen Länder.

"Dass wir nichts mit diesem Ereignis zu tun haben und keine Angriffe durchführen oder befürworten, die direkt gegen Zivilisten gerichtet sind, ist unserer Bevölkerung und der demokratischen Öffentlichkeit hinlänglich bekannt", heißt es in der aktuellen Stellungnahme der PKK. Sie gehe davon aus, "dass das AKP-MHP Regime in der Türkei mit Hilfe des Anschlags und der Beschuldigung der PKK die politische Agenda in ihrem Sinne verändern möchte".

Erdogans Machterhalt ist gefährdet

Die Frage "Wem nützt es" ist in diesem Fall in mehrfacher Hinsicht leicht zu beantworten. Innenpolitisch befindet sich Erdogans Regierung im kontinuierlichen Sinkflug in der Wählergunst. Eine sich immer weiter verschlechternde wirtschaftliche Lage, die Proteste der Frauen gegen das islamistische Mullah-Regime im Nachbarland Iran, die auch der türkischen und kurdischen Frauenbewegung aller Repressionen zum Trotz Auftrieb geben. All das gefährdet Erdogans Machterhalt.

Würde Erdogan die Wahlen 2023 verlieren, bliebe ihm nur das Exil, um einer Verurteilung wegen Korruption, Verfassungsbruch und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu entkommen. Vorgesorgt hat er mit seinem Familienclan.

In "Sozialen Netzwerken" werden nun Befürchtungen laut, Erdogan könnte nicht nur kurdische Kräfte der Täterschaft bezichtigen, sondern dies auch zum Anlass nehmen, sich auf dem G20-Gipfel in Indonesien das "Okay" für eine erneute völkerrechtswidrige Invasion in Nordostsyrien zu holen. Dies ist leider sehr naheliegend.