Wendet sich die Nato von der Ukraine ab?

Jens Stoltenberg in Helsinki. Bild: presidentti.fi

Forderungen aus Kiew wird viel mediale und politische Aufmerksamkeit zuteil. Entscheidend aber scheint, was Jens Stoltenberg gerade in Helsinki sagte

Von der europäischen Presse weitgehend unbeachtet hat Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg während eines Besuches in Finnland der Unterstützung einer militärischen Lösung des russischen Krieges gegen die Ukraine eine Absage erteilt. Beobachter sprachen von einer Neupositionierung des 63-Jährigen.

Stoltenberg hatte zuvor gesagt, der Krieg in der Ukraine könne lediglich am Verhandlungstisch beendet werden. Ein Friedensabkommen fordere immer auch Kompromisse, fügte er an – auch in Bezug auf territoriale Fragen.

Die Kommentare des Nato-Chefs wurden in Finnland während der jährlichen Kultaranta-Gespräche mitgeschnitten. Stoltenberg bekräftigte in dem knapp zweistündigen Podiumsgespräch zwar, der Westen sei bereit, für die Unterstützung der ukrainischen Landesverteidigung "einen Preis zu zahlen".

Kiew werde gegenüber der russischen Regierung aber territoriale Zugeständnisse machen müssen, um den Konflikt zu beenden, so der Vorsitzende des Nordatlantikpaktes.

Am Ende werde eine friedliche Lösung des Krieges ihren Preis haben, sagte Stoltenberg in einem Mitschnitt, der auf Twitter kursierte: "Frieden ist möglich", sagt er darin: "Die Frage ist nur: Welchen Preis sind (die Ukrainer, d. Red) bereit, für den Frieden zu zahlen? Wie viel Territorium, wie viel Unabhängigkeit, wie viel Souveränität sind sie bereit, für den Frieden preiszugeben?"

Die militärische Entwicklung im Ukraine-Krieg (19 Bilder)

Frontverlauf am 26. Februar 2022

In dem Gespräch sieht Stoltenberg davon ab, konkrete Vorschläge der Nato zur Beilegung des Konfliktes darzulegen. Die Nato und der westlichen Staaten stünden aber zu ihrem Versprechen, der ukrainischen Seite weiterhin Waffen liefern, um "ihre Position zu so weit wie möglich stärken". Auch dies sei mit Blick auf künftige Verhandlungen über ein Ende des Krieges nötig.

Die Schweizer Zeitung Blick wertete die Einlassungen Stoltenbergs als Neupositionierung des Nordatlantikpaktes:

Stoltenbergs Erklärung erfolgt in einer Zeit, in der die westliche Allianz mit Kiew nicht mehr so bedingungslos scheint wie zu Kriegsbeginn. Offiziell verlautet insbesondere aus US-amerikanischen und britischen Kreisen weiterhin, dass die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnen kann. Mahner wie der französische Präsident Emmanuel Macron (44) warnen davor, Moskau in die Enge zu treiben.

Macht sich im Westen eine "Ukraine-Müdigkeit" breit?

Befürworter einer militärischen Lösung treten angesichts dieser Entwicklung immer entschiedener auf. In einem Leitartikel warnte die britische Online-Plattform Open Democracy vor einer "Ukraine-Müdigkeit" des Westens, spricht: einer Kriegsmüdigkeit. In dem Text heißt es:

Nach mehr als drei Monaten ständiger Nachrichten über zerstörte ukrainische Städte, gefolterte ukrainische Zivilisten und die ukrainische Armee, die mit allen möglichen Waffen außer Atomwaffen beschossen wird, verfällt die Weltgemeinschaft in eine "Ukraine-Müdigkeit".

Die Rufe nach einem Kompromiss zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation, dem Aggressor, und der Abtretung von Gebieten werden immer lauter. Zweifellos werden sie zum Teil durch die drohende Nahrungsmittelkrise geschürt, die dadurch ausgelöst wird, dass Russland die ukrainischen Getreideexporte blockiert.

Für eine Welt, die bereit zu sein scheint, weiterzumachen, könnte sich der Widerstand der Ukraine langsam in eine Unannehmlichkeit verwandeln. Und Russland setzt darauf.

Tatsächlich ist eine zunehmende Anspannung zu beobachten. Große Medienaufmerksamkeit wurde einem Interview zuteil, in dem der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Anfang dieser Woche "die Sicherheit" einforderte, "dass Deutschland die Ukraine unterstützt". In dem ZDF-Gespräch sagte Selenskyj demnach: "Es darf kein Spagat versucht werden zwischen der Ukraine und den Beziehungen zu Russland."

In der zugespitzten Debatte änderte auch Scholz seinen Ton und kündigte Lieferungen neuer Waffen an, darunter hochmoderne Waffensysteme. "Russland kann, darf und wird diesen Krieg nicht gewinnen", sagt der SPD-Politiker. Auch unterstütze die Bundesregierung den EU- und Nato-Mitgliedsstaat Slowakei bei der Verteidigung des Luftraums.

Deutschland fühle sich verpflichtet, "jeden Quadratzentimeter" des Nato-Territoriums verteidigen. Das klingt entschieden, lässt die Ukraine aber außen vor.