Die subtile Kunst der Fehlinformation: Wenn Journalisten die Fakten verdrehen

Zeitungen und Computertastatur

Bild: Shutterstock

Schon kleine Ungenauigkeiten können Aussagen falsch oder irreführend machen. Beispiele zur Impfpflicht, der Correctiv-Berichterstattung und beim Thema Migration. Eine Analyse.

Eine ältere Konversation, die dieser Tage auf X wieder aufploppte, bietet ein anschauliches Beispiel fürs Missverstehen aus Mangel an Genauigkeit. Tim Röhn (Welt) fasste den Verlauf der Impfdebatte wie folgt zusammen:

Noch vor kurzem hieß es, eine hohe Impfquote beende die Pandemie. Es wurde z.B. auf Spanien & Portugal verwiesen. Dann wurde klar: Eine hohe Impfquote beendet die Pandemie nicht. Nun ist man sich einig: Eine #Impfpflicht beendet die Pandemie.

Tim Röhn auf X

Dabei hatte der Kollege allerdings aus der Aussage des Grünen Janosch Dahmen "Ohne Impfpflicht beenden wir die Pandemie nicht" gemacht: "Eine Impfpflicht beendet die Pandemie". Der Unterschied ist elementar - ganz ungeachtet der tatsächlichen Bedeutung von Impfungen.

Denn im ersten Fall wird eine Impfpflicht als notwendige, aber nicht zwingend hinreichende Bedingung postuliert. Es können weitere Maßnahmen nötig sein, es kann auch sein, dass das gesetzte Ziel selbst mit Impfpflicht nicht erreicht wird. Behauptet wird, dass es jedenfalls ohne Impfpflicht nicht gehen wird.

Im zweiten Fall wird sinnentstellend verkürzt und die Impfpflicht zu einer hinreichenden Maßnahme zur Beendigung der Pandemie erklärt.

Fehlinterpretation eines Gerichtsentscheids

Solche vermeintlichen Detailfehler finden sich zuhauf. So teilte der Chefredakteur von Correctiv gerade mit:

Wichtige News: Das Landgericht Hamburg hat die Beschwerden in 2. Instanz gegen unsere #Geheimplan-Recherche in vollem Umgang zurückgewiesen. Unsere Recherche steht. Wichtig ist das auch, weil bewusst falsche Narrative verbreitet wurden.

Justus von Daniels auf X

Abgesehen davon, dass es sich um das Hanseatische Oberlandesgericht (OLG) handelt, ist das in der dargebotenen Kürze nicht richtig.

Denn die Beschwerden, die das OLG zu prüfen hatten, richteten sich nicht gegen "unsere Geheimplan-Recherche", sondern gegen die Abweisung zweier auf die Recherche-Darstellung gerichtete Unterlassungsbegehren in der ersten Instanz, dem Landgericht Hamburg.

Und dieses hatte bereits die weitere Veröffentlichung einer angeblichen Aussage von Ulrich Vosgerau zu Wahlprüfungsbeschwerden untersagt, was Correctiv im Beitrag auch umgesetzt und dokumentiert hat. "Unsere Recherche steht" ist daher so nicht richtig.

Deutlicher hatte Correctiv den erstinstanzlichen Beschluss des Landgerichts fehlinterpretiert. Bis heute heißt es dazu auf der Seite in eigener Sache: "Die Entscheidung des Gerichts bestätigt die Inhalte der Correctiv-Recherche."

Das tut sie nicht. Denn in Zivilsachen prüft das Gericht nur die Anträge mit den entsprechenden Entgegnungen. Es nimmt keinen Qualitäts-Check vor und es ermittelt nicht von Amts wegen (§ 308 ZPO).

Deshalb haben Kläger in ein und derselben Sache auch immer mal wieder Erfolg mit neu und besser gestellten Anträgen bei anderen Gerichten. Aus der Ablehnung eines Verbotsantrags lässt sich grundsätzlich nicht die Richtigkeit journalistischer Aussagen ableiten – schon gar nicht des gesamten Stücks.

Die Kernaussagen des Correctiv-Beitrags waren zudem vor Gericht gar nicht angegriffen worden, weil es sich dabei auch nach Ansicht des Klägeranwalts um Meinungsäußerungen handelt.

Über wesentliche Inhalte des Beitrags wurde also erst gar nicht vor Gericht gestritten.

Tichys Fantasie

Da wir gerade bei Alternativmedien sind noch ein eklatantes Beispiel für Defizite in der Lesekompetenz bei Tichys Einblick. Dort erschien ein Beitrag unter dem so reißerischen wie falschen Titel "Kommunen müssen jeder Flüchtlingsfamilie Unterkunft bereitstellen – nicht aber Einheimischen". Beitragsbeginn:

Obdachlosigkeit ist nur für deutsche Staatsbürger vorgesehen. Flüchtlingsfamilien müssen mit Wohnungen versorgt werden, sobald sie einreisen. Das hat das bayerische Oberverwaltungsgericht entschieden. Der Staat muss Migranten mit Wohnungen versorgen, aber nicht Einheimische.

Tichys Einblick

Es ist immer verdächtig, wenn journalistische Beiträge keine exakten Quellen für ihre Informationen angeben. Tichys Redaktion verlinkt nicht etwa auf den Gerichtsbeschluss (VGH Bayern 4 CE 24.60), sondern auf eine Zeitung.

Deren Bericht gibt die Behauptung allerdings ebenso wenig her wie die zentrale Rechtsquelle für die Gerichtsentscheidung, Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 des bayerischen Landesstraf- und Verordnungsgesetzes. Danach ziehe unfreiwillige Obdachlosigkeit "konkrete Gefahren für Leib und Leben nach sich".

"Die zuständige Gemeinde sei daher als untere Sicherheitsbehörde zu entsprechendem sicherheitsbehördlichen Einschreiten regelmäßig verpflichtet", zitiert der Gerichtsbeschluss die Vorinstanz. Dieser Grundsatz hat nichts mit einem Flüchtlingsstatus zu tun und gilt selbstredend auch für "Einheimische".

Wirklich "niemand"?

Für Behauptungen der Art, jeder oder niemand sei von etwas betroffen, fordere oder beabsichtige etwas, ist es regelmäßig schwierig, eine belastbare Quelle zu benennen. Einfacher funktioniert die Falsifikation solcher Aussagen, denn dann genügt ein einziges Gegenbeispiel.

Der Leiter des Spiegel-Wissenschaftsressorts behauptete kürzlich:

Anders als in Spanien oder Frankreich wurde bei uns niemand in seiner Wohnung eingesperrt. In Deutschland gab es nur einen Lockdown light. Das nachträgliche Klagen über die Coronamaßnahmen ist Jammern auf höchstem Niveau. Soooo deutsch.

Olaf Stampf auf X

Über die korrekte Verwendung des Begriffs "Lockdown" wird seit März 2020 immer wieder in den Medien gestritten. Markus Grill (NDR/WDR-Investigativ-Ressort) behauptete gerade, in Deutschland habe es nie einen Lockdown gegeben, also auch keinen in Light-Version.

Zumindest Stampfs Aussage muss man als falsch kennzeichnen. Denn jeder Infizierte unterlag bei Strafandrohung der häuslichen Quarantäne und war mithin "in seiner Wohnung eingesperrt" (§ 30 IfSG; Beispiel Erläuterungen beim RBB im März 2020; RKI im Januar 2022).

Erinnert sei auch an die prophylaktische Abriegelung ganzer Wohnblocks (z.B. in Berlin), auch wenn hier Menschen z.T. noch bis ans Gitter vor dem Haus getreten sind.

(Für Göttingen wurde die Kasernierung negativ Getesteter übrigens mit reichlich Verspätung vom zuständigen Gericht als rechtswidrig beschieden, Schmerzensgeldklagen sind eingereicht).

Gefühlt seit Lichtjahren

Ein sicherer Indikator für Ungenauigkeit ist das modisch gewordene "gefühlt" vor einer Behauptung. Allerdings vermag auch diese sehr offene Relativierung nicht zu heilen, wenn sich Journalisten völlig in der Dimension vertun, wie im Medienmagazin Übermedien gelesen. Dort steht in einem Text über die aktuelle Corona-Berichterstattung als Beispiel für Schwächen:

Die Dämonisierung von Schulschließungen, die noch gefühlte Lichtjahre später als Grund für allerlei Missstände herhalten müssen. René Martens auf Übermedien

"Lichtjahr" ist nun allerdings kein Zeitmaß, sondern eine Längeneinheit. Wie können - auch nur gefühlt - Billionen Kilometer zwischen den Schulschließungen und ihrer heutigen Dämonisierung liegen?

Fehlende Autoren-Info

Immer wieder führen Ungenauigkeiten bzw. Unvollständigkeiten bei Autorenangaben zu Orientierungsmängeln.

Die Süddeutsche Zeitung hat deshalb nun den Beitrag "Die kleine Blockchain-Hochburg" zurückgezogen, rund zwei Wochen nach Erstveröffentlichung und wohl aufgrund einer Recherche von Capital. Auf der Website findet sich stattdessen nun folgender Hinweis:

Am 8. März erschien an dieser Stelle der Artikel "Die kleine Blockchain-Hochburg". Der Autor des Textes ist als freier Journalist tätig, betreibt aber auch die Firma Make Europe GmbH, die unter anderem Blockchain-Software programmiert. Der Autor hat der SZ gegenüber zwar versichert, dass es keinerlei Interessenkonflikte gebe. Dennoch war die Veröffentlichung ein Fehler. Wir bedauern das und haben deshalb den Artikel depubliziert. Süddeutsche.de

In der Print- wie Online-Fassung fehlte jedoch nicht nur die Behauptung des Autors, dass kein Interessenkonflikt vorliege, sondern jeglicher Hinweis auf seine wirtschaftliche Aktivität im Blockchain-Metier. Schon etwas mehr Genauigkeit in der Autorenzeile hätte hier eine kleine Blamage ersparen können.

Möglicherweise absichtlich ungenau berichtete die Tagesschau in mehreren Beiträgen über die freigeklagten Protokolle des Robert-Koch-Instituts (siehe: "Corona-Akten des RKI").

ARD-Faktenfinder Pascal Siggelkow spricht in seinem Text nur von "einem Blog", ein Filmbeitrag von "einem Online-Magazin", anstatt dieses wie bei anderen Medien beim Namen zu nennen und in der Textfassung zu den Dokumenten zu verlinken: Multipolar.