Wenn Täter zu Opfern werden

Der Überfall auf eine Supermarkt-Filiale in Krems in Niederösterreich endete für einen 14-jährigen Einbrecher tödlich. Polizisten haben ihn von hinten niedergeschossen und das sorgt in Österreich gerade für hitzige Diskussionen

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In der Nacht von Dienstag, den 4. August, auf Mittwoch, den 5. August, brach Florian P. gemeinsam mit dem 16-jährigen Roland T. in die Merkur-Filiale im niederösterreichischen Städtchen Krems ein. Was genau passierte, als der Alarm ausgelöst wurde und die Polizisten – ein Mann und eine Frau – im Supermarkt eintrafen, wird gerade ermittelt. Fest steht, dass die Polizisten dreimal schossen und dieser Schusswechsel einen Schwerverletzten und ein Todesopfer forderte. Ein Schuss ging ins Leere. Ein Schuss durchbohrte beide Oberschenkel von Roland T., den Komplizen und möglicherweise Anstifter von Florian P. Ein Schuss traf Florian P. in den Rücken. Wenige Minuten später starb er im Krankenhaus.

Florian P. wurde gestern in Krems begraben. Entgegen aller Annahmen ist das Begräbnis ohne Ausschreitungen über die Bühne gegangen. Da der Tod des 14-Jährigen besonders unter den Jugendlichen in Krems einen tiefen Polizisten-Hass schürte, wurden Eskalationen befürchtet. Eskalationen sind aber höchstens vorher passiert. In Form von Leserbriefen und Postings, in den Zeitungen und im Fernsehen. Die Frage, die im Raum schwebte und manchmal direkter, manchmal eher zwischen den Zeilen gestellt wurde: Wie viel wiegt das Leben eines 14-Jährigen, der kriminell ist?

Richter und Henker

Der Fall Florian P. hinterlässt viele Fragen. Etwa, wie es möglich ist, als Angreifer von hinten erschossen zu werden? Die zwei Polizisten behaupten, sie wären von den zwei vermummten Einbrechern angegriffen worden und hätten deshalb geschossen. Fragen sind aber auch im Rahmen der Aufklärung entstanden. Etwa, warum der überlebende Roland T. sofort zum Tathergang befragt wurde und die beiden Polizisten aufgrund ihrer Traumatisierung eine mehrtägige Schonfrist bekamen? An und für sich ist es üblich, Befragungen unmittelbar nach der Tat durchzuführen, um eine Absprache oder Beeinflussung durch Dritte zu verhindern. Andernfalls besteht Verabredungsgefahr.

Eine weitere Frage in diesem Zusammenhang: Warum leiten Polizisten die Ermittlungen? An und für sich wäre in so einem Fall die Staatsanwaltschaft für die Leitung der Verhöre vorgesehen.

Medien, die diese Fragen stellten oder gar versuchten, Antworten darauf zu finden, wurden mit dem Vorwurf konfrontiert, einen Verbrecher zu unterstützen, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen oder politisch zu agieren. Dazu zählten der ORF und Tageszeitungen wie Der Standard oder Die Presse. Die Vorwürfe kamen von aufgebrachten Lesern oder anderen Medien, der Kronen Zeitung zum Beispiel, Österreichs größten und meinungsbildendsten Tageszeitung.

Die Kronen Zeitung ergriff vom ersten Tag der Berichterstattung an Partei für die Polizisten. In der Berichterstattung wurden der wenig stabile familiäre Background von Florian P. oder das „Ghetto“ beleuchtet, in dem er lebte. Ganz so, als wäre Krems Paris, London oder New York. Und Kronen-Zeitungs-Kommentator Miachel Jeanne meinte in seiner Kolumne gar, dass jugendliche Einbrecher den Tod in Kauf nehmen müssten. Als Berufsrisiko sozusagen. Bei einer Talk-Show im Fernsehen erklärte Jeanne dann noch, welche Fragen seiner Meinung nach gestellt werden müssten: Warum ein 14-Jähriger so spät in der Nacht nicht im Bett liege, sondern sich mitten in einem Einbruch befindet, etwa. Oder: Wo in jener Nacht die Eltern waren. Und wahrscheinlich saßen viele vor dem Fernseher und nickten ihm zustimmend zu.

Rechte und Pflichten eines Polizeibeamten

Der Fall Florian P. in Krems hat aber auch Fragen aufgeworfen, ob der Einsatz der Waffe gerechtfertigt war und ob die Polizisten zu schnell geschossen haben. Hierzu gilt prinzipiell Folgendes: Von der Schusswaffe Gebrauch machen dürfen Polizeibeamte theoretisch nur, wenn andere, weniger gefährliche Maßnahmen wirkungslos scheinen und im absoluten Ausnahmenfall. Außerdem darf der Schusswaffeneinsatz einen Menschen lediglich angriffs-, widerstands- und fluchtunfähig machen. Das heißt, Schüsse auf Arme oder Beine sind theoretisch gestattet, Schüsse in den Rücken, die Brust oder den Kopf tabu.

Diese Regelung gilt nicht nur in Österreich, sondern auch in den anderen EU-Ländern. In punkto Bewaffnung herrschen jedoch gravierende Unterschiede. Die Bobbys in Großbritannien etwa dürfen im Außendienst keine Schusswaffen tragen. In Norwegen dürfen Polizisten im Außendienst nur in Ausnahmesituationen Schusswaffen tragen. Das wirkt sich auch auf die „Unfallbilanz“ aus. In Norwegen gibt es deutlich weniger Verletzte durch Polizeigewalt als im benachbarten Schweden, wo die Polizei sehr wohl bewaffnet ist.

Mit zweierlei Maß

Nicht zu leugnen ist auch, dass im österreichischen Justizwesen gern mit zweierlei Maß gemessen wird. Das passiert gerade im Fall Florian P., wo die beiden Polizisten mit Samthandschuhen angefasst werden und höchsten Schutz genießen. Das passierte aber auch in anderen Fällen.

Anfang Februar dieses Jahres wurde in der Wiener U-Bahn-Station Spittelau ein US-amerikanischer Lehrer von zwei Polizeibeamten krankenhausreif geschlagen. Die Beamten verwechselten ihn mit einem schwarzafrikanischen Drogendealer, hatten dann zwar ein Verfahren, wurden aber frei gesprochen und sind aus diesem Grund heute nach wie vor im Dienst. Abgesehen von der verhängnisvollen Verwechslung hätte es sich um einen Dienst nach Vorschrift gehandelt, so die Begründung.

Dass zweierlei Maß im österreichischen Justizwesen sogar an der Tagesordnung steht, will auch eine Enthüllungsserie in der Wiener Stadtzeitung Falter beweisen, die diese Woche gestartet ist. Dem Aufdeckungsjournalisten Florian Klenk wurden von einem Informanten aus dem Justizministerium zwei Papiersäcke voller vertraulicher Akten zugespielt, in denen Namen hoher Politiker, Beamter, aber auch Polizisten genannt werden und in denen unter anderem von Bestechung, Amtsmissbrauch und Freunderlwirtschaft die Rede ist. Die Motivation für den Informanten, die geheimen Staatspapiere weiterzugeben: „Die Sitten und Gebräuche in unserem Haus müssen endlich öffentlich werden“, so heißt es im aktuellen Falter.