Wenn ein Joint einen Riot auslöst
Linke und Staatsapparate rätseln über die Ursachen einer Stuttgarter Straßenschlacht, die an die Schwabinger Krawalle erinnert. Kommentar
Straßenschlachten in Stuttgart? Da reiben sich viele die Augen. Denn die Hauptstadt von Baden-Württemberg gilt gemeinhin nicht als Zentrum von politischen Unruhen. Dabei wird vergessen, dass in der Stadt am 30. September 2010 friedliche Demonstranten durch Polizeigewalt schwer verletzt wurden, ein Demonstrant verlor sogar ein Auge.
Damals ließ eine CDU-geführte Landesregierung den Stuttgarter Schlossgarten räumen, wo sich Gegner des Bahnprojekts Stuttgart 21 versammelt hatten, das auch heute noch die Innenstadt als Großbaustelle prägt. Ob einige der Menschen, die sich an den Riots am vergangenen Samstag in der Stuttgarter Innenstadt beteiligt haben, auch Teil der Gegnerschaft zu Stuttgart 21 sind, ist nicht bekannt, aber wahrscheinlich.
Schließlich war die Bewegung gegen Stuttgart 21 über Jahre in der Region prägend. Dass unter einer grünen Regierung das Projekt doch noch realisiert wird, weil sich die Bewegung von Politikern wie Heiner Geissler und Co. eine Gesprächstherapie und einen Volksentschied aufschwatzen ließ, ist für eine ganze Protestgeneration zu einer schmerzliche Erfahrung geworden. Eine kleine Gruppe von S21-Gegnern machte weiter mit den Protesten, ein anderer Teil hat sich aus der politischen Arbeit in die Eventkultur zurückgezogen.
Wenn schon selbst eine große Bewegung es nicht schafft, ein Projekt wie S21 zu verhindern, warum sich dann politisch engagieren, dachten sich viele und prägten damit auch jüngere Menschen. Wenn sie schon nicht für politische Veranstaltungen auf die Straße zu bringen waren, das Feiern wollten sie sich nicht verbieten lassen. So konnte aus einer aufgelösten Party schnell mal ein Riot werden wie in den letzten Tagen. Der unmittelbare Anlass war eine Polizeimaßnahme gegen Jugendliche, die einen Joint rauchten, wie das Hanfjournal erklärte.
Was der Corona-Notstand mit dem Riot zu tun hat
In dem Magazin wird sachlich und ohne Schaum vor dem Mund das politische Klima skizziert, das den Riot möglich machte.
Umso mehr gilt das dieses Jahr, denn die Coronapest steckt uns allen in den Knochen und ganz Deutschland freut sich endlich mal "mit allen Vorsichtsmaßnahmen" raus zu dürfen. Die Politik will das. Wir sollen konsumieren, damit die Wirtschaft nicht zusammenbricht. Natürlich fließen 100erte Hektoliter Bier, Wein und Schnaps. Niemand fragt nach, wieviel Schaden durch den Alkoholkonsum in dieser Nacht entsteht. Es gehört nun mal zur Deutschen "Leidkultur", dass Alkohol eine gute Droge ist. Wie viele deutsche PolitikerInnen sind "Botschafter des Bieres, des Weins des Suffes"? Andere Drogen sind es nicht. Insbesondere Cannabis, das von ca. 15% der Bevölkerung regelmäßig konsumiert wird, wird gnadenlos verfolgt. Die Polizei geht gegen dieses jährlich millionenfach vor.
Aus Hanfjournal
Dort wird auch erklärt, dass viele Jugendliche nicht nur in Stuttgart Erfahrungen mit Polizeigewalt machen, die in den letzten Wochen in den USA zu großen Auseinandersetzungen führten.
Unzählbare Durchsuchungen & Körperkontrollen jedes Jahr, denen ungefähr 100.000 jährliche Verfahren folgen, sind aktenkundig und können nicht geleugnet werden. Insbesondere die jüngere Generation weiß genau, was Ganzkörperkontrolle bedeutet und kennen das Gefühl, wenn ihnen ein uniformierter Mensch von hinten befiehlt: "Und jetzt bitte die Pobacken auseinander" - Ja, sich in der Allerwertesten reinschauen lassen, ist erniedrigend - für das Opfer und auch für den/die Täter.
Aus Hanfjournal
Eine Jugend, die sich nach den coronabedingten Einschränkungen das Feiern nicht verbieten lassen will und auch nicht einsieht, dass ein Joint geahndet wird, hat durchaus über ihre sozialen Netzwerke mitbekommen, wie sich ihre Alterskohorte in den USA gegen Polizeigewalt wehrt.
In den letzten Wochen gab es auch viele Proteste in Deutschland. Dort ging es nicht nur um Polizeigewalt in den USA, sondern auch in Deutschland. Davon sind oft in erster Linie junge Menschen betroffen, die auf den ersten Blick nicht in das "deutsche Reinheitsbild" passen. Doch es sind auch junge Menschen darunter, die feiern wollen und die Polizei nicht dabei haben wollen.
Und dann treffen sie auf Menschen wie den Wissenschaftskabarettisten Vince Ebert, die den Protestierenden vorwerfen, ihr antirassistisches Engagement nur zu simulieren und mit der Freiheit nicht umgehen zu können. Es ist erfreulich, dass sich von solchen Moralpaniken die Jugendlichen in Stuttgart nicht beeindrucken ließen.
Erinnerung an die Schwabinger Krawalle
Nun rätseln die Staatsapparate, Politiker aller Parteien, aber auch manche Linken, wer denn jetzt die Jugendlichen waren, die sich gewehrt haben. Innenminister Seehofer versuchte gleich eine polizeikritische Kolumne in der Taz dafür verantwortlich zu machen, obwohl sicher ein Großteil der Rioter nie von der Taz gehört haben, vom Schwarzen Donnerstag der Polizeigewalt in Stuttgart vor 10 Jahren schon eher.
Kaum jemand dürfte an die Schwabinger Krawalle gedacht haben, als, fast auf den Tag genau vor 58 Jahren, am 21. Juni 1962, eine Polizeiaktion gegen musizierende Jugendliche zu einem tagelangen Riot in der bayerischen Hauptstadt führte.
In einem Beitrag des Bayerischen Rundfunks wird die Atmosphäre geschildert, die zu den damals vielbeachteten Unruhen der "Halbstarke" genannten Jugendlichen führte:
21. Juni 1962, München Schwabing. Musik liegt in der Luft: Der Sommerabend ist lau, und ein paar Jugendliche mit akustischen Gitarren haben noch keine Lust, nach Hause zu gehen. Man spielt russische Volkslieder und findet auf der Leopoldstraße bald ein paar Dutzend geneigte Zuhörer. Doch die Anwohner fühlen sich von den Straßenmusikanten in ihrer Nachtruhe gestört. Sie rufen die Polizei. Um 22.35 Uhr fährt laut Protokoll der erste Funkstreifenwagen vor. Die lässigen Lockenköpfe empfangen die uniformierten Beamten mit Pfiffen und Buhrufen. Von da an schaukeln sich die Ereignisse hoch: Es wird die erste von insgesamt fünf Nächten, in denen sich die Polizei durch die Münchner Innenstadt prügelt. Als "Schwabinger Krawalle" werden die Straßenkämpfe in die Annalen der bayerischen Landeshauptstadt eingehen - und zwar als ein besonders unangenehmes Kapitel: Es sind fünf Nächte, in denen die Obrigkeit zuschlägt, im Nachhinein aber selbst zu Kreuze kriechen muss.
Bayerischer Rundfunk
Freizeit ohne Kontrolle
Die Berichte zeigen, dass sich zwar 58 Jahre später sehr viel im Bereich von Kommunikation und Technik verändert haben mag, das Unbehagen einer Jugend an dem autoritären Gebaren von Staatsapparaten aber ist geblieben. Die "Schwabinger Krawalle" sorgten für viel Aufmerksamkeit, weil damit Jugend im Kapitalismus als eigenständiges Subjekt erst entdeckt worden war. In den USA stand dafür der Schauspieler James Dean.
Der Begriff der Halbstarken machte die Runde und der Kapitalismus begann diese Generation als potentielle Kunden zu entdecken. Der Politikwissenschaftler David Templin sieht in den Schwabinger Krawallen denn auch den Beginn einer Entwicklung, die zur bundesweiten Jugendzentrumsbewegung führte, wie er in seinem Buch "Freizeit ohne Kontrollen. Die Jugendzentrumsbewegung in der Bundesrepublik der 1970er Jahre" darlegt.
Daran hat sich in den letzten Jahrzehnten so viel nicht verändert. Wie die Schwabinger Krawalle waren auch die Stuttgarter Riots nicht un- sondern "vorpolitisch". Nicht wenige der jungen Akteure der Schwabinger Krawalle waren Jahre später in der außerparlamentarischen Bewegung aktiv.