Wenn westliche Werte zur Richtschnur erhoben werden …
In den Neujahrsreden von EU-Politikern wird westlichen Werten viel Platz eingeräumt - Ein Kommentar
Die Beschwörung von Werten prägt nicht nur die Neujahresbotschaft der deutschen Kanzlerin, sondern sie steht auch im Zentrum der Reden anderer politischer Führer der EU. Nebenbei wurde konstatiert, dass manches falsch gelaufen ist. Für eine Selbstkritik hat es nur begrenzt gereicht, eigenes Versagen wollte niemand eingestehen.
Der finnische Präsident Sauli Niinistö betrachtet den Unmut der EU-Bürger, wie er sich bei den politischen Aktionen und dem Wahlverhalten während der letzten Jahre artikulierte, als Resultat verwirklichter westlicher Werte. Demokratie, Gleichwertigkeit und Freiheit hätte es bislang nirgendwo in gleichem Umfang gegeben wie gegenwärtig auf dem europäischen Kontinent. Indem Proteste ermöglicht würden, bestünde allerdings die Gefahr, dass Kräfte die Oberhand gewinnen, die jene Werte beseitigen wollen. Deren Verteidigung muss daher im Fokus der Bemühungen demokratisch gesinnter Politiker stehen.
Da er selbst der Elite angehört, hat er keinen Zugang zu Personen, die den proklamierten Werten nicht viel abgewinnen können. Für prekär Beschäftigte oder neokolonial Ausgebeutete dürfte die Erfüllung materieller Bedürfnisse den Vorrang haben. Zudem sind sie überwiegend außerstande, ihre Interessen trotz formaler Meinungsfreiheit wirkungsvoll zu artikulieren und trotz demokratischer Strukturen gesellschaftlich durchzusetzen.
Konflikt zwischen Werten und Recht
Wenn westliche Werte zur Richtschnur erhoben werden, dann wird nicht nur häufig das Vorhandensein wirtschaftlicher und sozialer Bedingungen ignoriert, die den überwiegenden Teil der Bevölkerung von einer aktiven Teilnahme ausschließen. Werte können darüber hinaus mit rechtlichen Regelungen in Konflikt stehen. Diese sind den Herrschenden und Mächtigen in einem langen historischen Kampf abgerungen worden. In ihnen widerspiegeln sich Interessendivergenzen, sie haben daher Kompromisscharakter. Zum einen dienen sie der Elite etwa bei der Garantie von Privateigentum, zum anderen werden aber auch Rechtsnormen und Verfahrensweisen zementiert, die die Position Schwächerer stärken.
Der Konflikt zwischen Werten und Rechten offenbart sich aktuell bei den Reaktionen auf Donald Trumps mittlerweile wieder relativierten Beschluss, das US-amerikanische Militär innerhalb der nächsten Monate aus Syrien abzuziehen. Führende Politiker und Medien der EU üben Kritik, wobei sie sich auf Werte beziehen. Es würde das demokratische Modell Rojava geopfert werden, die Kurden würden in die Arme des "Machthabers" Baschar Al-Assad getrieben, hinter dem das autoritär regierte Russland und der islamistische Iran stehen. Nirgendwo wird thematisiert, dass jahrelang durch den Aufenthalt westlicher Militärangehöriger internationales Recht gebrochen wurde und Trump diesen Status beenden will.
Tatsächlich gibt es Situationen, in denen ein breiter Konsens besteht, dass Menschenrechten und anderen Werten ein höherer Stellenwert beizumessen ist als formalrechtlichen Bestimmungen. Aber auch in diesem Fall gibt es ein Rechtsorgan, das die Entscheidung fällt: den UN-Sicherheitsrat.
Rechtskonstruktionen bilden einen Schutz vor willkürlichen Interpretationen, unabhängig ob diese sich auf Werte oder andere Beweggründe berufen. Ausgeschlossen werden soll die Anwendung des Prinzips "Der Zweck heiligt die Mittel". Die Faktenlage, auf deren Grundlage Entscheidungen zu treffen sind, ist oftmals unübersichtlich, vielfach sogar gewollt. So gehören False-Flag-Aktionen zu den Standardinstrumenten von Geheimdiensten, wobei sich politische Führungen häufig als Auftraggeber erweisen. Eine faire Behandlung kann nur dann gewährleistet werden, wenn juristische Grundprinzipien beachtet werden. Dies betrifft die Unschuldsvermutung und die Existenz von Beweisen bzw. gravierenden Indizien, um eine Verurteilung rechtfertigen.
Relativität von Werten
Werte sind zeitgebunden und enthalten einen breiten Interpretationsspielraum. Es wurden Kriege für christliche Werte geführt, Völker im Namen zivilisatorischen Fortschritts ausgerottet, das Halten von Sklaven mit rassistischen Argumenten verteidigt und Weltherrschaften mit der Überzeugung der Einzigartigkeit der eigenen Nation angestrebt. Auch der im Westen allgemein verurteilte Wertekanon islamischer Terroristen gehört in diese Kategorie.
Können die westlichen Werte tatsächlich Universalität für sich beanspruchen? Zweifellos können sie als Fortschritt wahrgenommen werden, soweit sie mit ihren historischen Vorgängern verglichen werden. Muss aber akzeptiert werden, dass "die Demokratie am Fabriktor endet", wie es die Gewerkschaftslinke in den 70er Jahren ausdrückte? Haben Freiheit von Handel und Kapitalverkehr Vorrang vor den sozialen und materiellen Bedürfnissen breiter Bevölkerungsschichten, auch wenn sie diese beeinträchtigen? Werden mit dem Postulat der Freizügigkeit der Arbeitskräfte nicht anderen Ländern wertvolle menschliche Ressourcen geraubt? Ist die Sichtweise in ostasiatischen Kulturen, dass persönliche Freiheiten hinter gesellschaftliche Interessen zurücktreten müssen, grundsätzlich abzulehnen?
Eine Betonung von Werten ist an sich nicht falsch, jedoch mangelt es vielerorts an der Bereitschaft, die eigene Position zu relativieren. Dies führt zu einem eurozentrischen Blick, der das Verständnis für andere Kulturen und deren gesellschaftliche Spielregeln erschwert. Ebenfalls wird in Wertdebatten oftmals die historische Dimension ignoriert. Ist die Verabsolutierung des eigenen Standpunkts möglicherweise gewollt? Wenn westliche Werte in den Neujahrsreden beschworen werden, dann entsteht der Eindruck, dass sie vornehmlich als "Trostpflaster" fungieren, um das eigene politische Unvermögen zu kaschieren.