Wer oder was ist systemrelevant?
Ein herzliches Dankeschön für die Alltagshelden
Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie wurden immer wieder verschiedene Berufsgruppen hervorgehoben und ihre Systemrelevanz betont. Zunächst waren es die Pflegekräfte und Ärzte, dann die Kassiererinnen im Supermarkt, die Putzkräfte im Krankenhaus oder die LKW-Fahrer bei der Güterversorgung.
Gelobt wurden die Gruppen - außer den Ärzten - auch deshalb, weil sie ihren Dienst am Funktionieren der Gesellschaft für wenig Geld erbringen. Ihre Selbstlosigkeit wurde gelobt und der Bundestag, der in dieser Lage keine Parteien, sondern nur noch Deutsche kennen wollte, erhob sich feierlich, um diesen Menschen zu applaudieren. Dem schloss sich die freie Presse an, und auch viele Mitbürger sahen sich veranlasst, diesen Berufsgruppen vom Balkon oder Fenster aus, Applaus zu spenden. Die Frage bleibt aber, was entscheidet über Systemrelevanz und was bringt das ein?
Systemrelevanz
Mit der Rede vom System, für das die einzelnen Tätigkeiten relevant sein sollen, ist eigentlich nicht angegeben, für welche Ordnung oder Institution die einzelne Tätigkeit was genau an relevantem Beitrag leistet. Beim Lob der verschiedenen Berufsgruppen soll man sich offenbar vorstellen, dass diese Menschen ihren Dienst für die Gemeinschaft, für Deutschland oder für die Nation erbringen.
Nur sind sie in der Regel nicht im Staatsdienst tätig oder gar dienstverpflichtet, sondern angestellt bei einem Supermarkt, Krankenhaus oder Pflegedienst, bei einer Reinigungsfirma oder Spedition. Sie dienen gar nicht einfach einem Versorgungszweck der Bevölkerung. Vielmehr ist die Versorgung, die da stattfindet, Mittel des jeweiligen Geschäfts, das Handels- und Dienstleistungsunternehmen in den Bereichen Ernährung, Gesundheit usw. machen.
Wenn es nur um die Versorgung z.B. mit Lebensmitteln ginge, dann bräuchte es übrigens in den Läden nur Personal, das die Güter auf Paletten oder in Regalen bereitstellt; selbst bedienen müssen sich die Kunden heute ja sowieso. Auf Kassiererinnen könnte man natürlich nur dann verzichten, wenn eine entscheidende Bedingung erfüllt wäre: Die in der Produktion tätigen Arbeitskräfte haben genug zum Zweck der Verteilung hergestellt, so dass sich jeder nehmen kann, was er braucht. So sind Supermärkte aber nicht konstruiert. Dort gibt es das, was man zum Leben braucht, nur dann, wenn man über die entsprechende Zahlungsfähigkeit verfügt; ansonsten darf man die gefüllten Schaufenster bestaunen und muss sich beim Kauf auf das beschränken, was man bezahlen kann.
Die Alltagshelden und -heldinnen erbringen ihren Dienst daher auch nicht aus lauter Selbstlosigkeit, sondern weil sie Geld verdienen müssen, um zu leben. Dieses Angewiesensein auf Geld für den Lebensunterhalt nutzen die Arbeitgeber aus, um für wenig Geld möglichst viel an Leistung einzufordern, deren Erbringung auch schon in Normalzeiten ein Härtetest ist - ein Tatbestand, der gegenwärtig gar nicht verschwiegen wird, vielmehr den Grund für das allgemeine Lob abgibt.
Was hier als Heldentum gefeiert wird - dass Menschen bei sparsamstem Entgelt nützliche Dienste für die Gemeinschaft erbringen -, ist also nichts anderes als das Ergebnis eines Erpressungsverhältnisses. Für diese Tätigkeiten stehen - bis auf den Bereich der Pflege, bei der Idealismus gefordert wird - meist mehr Menschen zur Verfügung, als Arbeitsplätze angeboten werden, so dass es den Arbeitgebern leicht fällt, diese Arbeitsmarktlage für sich auszunutzen. Unterstützung fanden sie dafür bei den regierenden Parteien von grün bis christlich-sozial, die in Deutschland den Niedriglohnsektor durch die Sozialgesetze befördert haben. Deshalb ist es ein Zynismus, dass diese Politiker jetzt applaudieren und mehr Anerkennung für die betreffenden Berufstätigen fordern.
Anerkennung
Dass Anerkennung leicht zu haben ist und die mit Lob Bedachten sich davon nichts kaufen können, wissen im Grunde auch diejenigen, die nicht darauf verzichten wollen, diesen Berufsgruppen in irgendeiner Form Respekt zu zollen: Das haben die sich auf jeden Fall verdient! (Trinkgeld dürfen übrigens Kassiererinnen bei Rossmann oder Penny nicht annehmen - das wäre wohl ein zu schnöder Beitrag.) Worauf mit der Notwendigkeit des Lobs bestanden wird, ist die verbreitete Vorstellung, dass sich die Bezahlung hierzulande irgendwie nach der Wichtigkeit der einzelnen Tätigkeiten für die Gesellschaft richten würde, müsste, sollte … Im Prinzip soll man das ja an der gültigen Einkommenshierarchie ablesen können.
Da gibt es z.B. die Legende, dass Manager ganz besonders wichtige Tätigkeiten ausüben würden, mit ganz viel Verantwortung, weswegen die Millionenbeträge als Entlohnung angebracht seien. Eine Vorstellung von Systemrelevanz, die ja in der großen Finanzkrise vor zwölf Jahren noch einmal ausdrücklich bekräftigt wurde. Dabei braucht man gar nicht genau zu wissen, was solche leitenden Funktionäre des Geschäfts wirklich tun. Sie stehen einfach mit ihrer Person für den Erfolg der Firma, der sich in den Renditen der Aktionäre oder Anteilseigner niederschlägt. Dafür organisieren sie immer wieder neu Betriebsabläufe oder Geschäftsbeziehungen, um mit weniger Personalkosten ein mehr an Leistung, gemessen am Verkaufsergebnis, zu Stande zu bringen.
Diejenigen, die dieses Ergebnis produzieren müssen, erhalten ihr Geld je nach Arbeitsmarktlage, d.h., wenn Fachkräfte fehlen, etwas mehr, wenn ein Überangebot an Arbeitskräften existiert, eben mit leichter zu drückenden Löhnen. Eine Qualifikation erweist sich da als immer so viel wert, wie gerade von Arbeitgeberseite gebraucht wird, und so ist schon mancher Studierte zum Taxifahrer geworden.
Wenn jetzt für Alltagsheldentum und Systemrelevanz mehr Anerkennung gefordert wird, bekräftigt das noch einmal die Vorstellung, dass die Bezahlung hierzulande eine Frage der Gerechtigkeit ist: In dem, was gezahlt wird, drückt sich eigentlich das Maß der Anerkennung durch die Gesellschaft aus bzw. hätte sich danach zu richten. Und das Klatschen und Loben tut so, als würde es einen Beitrag zur fairen Bezahlung dieser Menschen leisten. Dabei kommt die Diskussion um mehr Anerkennung einem Appell an diejenigen gleich, die wirklich über Löhne und Gehälter entscheiden. Und - man höre und staune - dieses Mal verhallt er nicht einfach ungehört.
Die Arbeitgeber geben einen aus
Nachdem die Politik einen Bonus bei den Arbeitgebern angemahnt hatte und Steuerfreiheit für eine Prämie ankündigte, erklärten sich Einzelhandelsketten angesichts ihrer guten Geschäftslage in der Krise, wo alle Versorgung über ihre Ladentheke läuft, weil Restaurants, Schnellimbisse und Kantinen geschlossen sind, nicht in allen, aber in bestimmten Fällen bereit, eine Prämie von bis zu 500 € zu zahlen. Nachdem die Politik den Krankenhäusern und Pflegediensten die Refinanzierung zusagte, trafen auch die Arbeitgeber für Pflegekräfte gemeinsam mit der Gewerkschaft Ver.di, die nichts gefordert hatte, die Vereinbarung einer Prämienzahlung an Pflegekräfte über 1.500 €.
So zeigen sich die Dienstherren für die geleisteten Dienste dankbar gegenüber ihren braven Dienstbeflissenen, die gar nicht auf die Idee gekommen sind, für sich einmal etwas zu fordern, wo doch alle Welt auch von ihren Diensten abhängig ist. Gleichzeitig macht sich Enttäuschung bei den Betroffenen breit, weil es sich um eine Einmalzahlung handelt und danach alles wieder seinen gewohnten Gang zu gehen scheint.
Wer allerdings auf die Dankbarkeit seines Arbeitgebers für treue Dienste setzt, darf sich darüber nicht wundern, stellt eine solche Haltung es doch ganz dem Dienstherren frei, wie er sich erkenntlich zeigt. Um auf Dauer zu einem besseren Einkommen für ihre Arbeit zu gelangen, müssen sich die Betroffenen schon etwas anderes einfallen lassen. Früher hieß das einmal Solidarität und war nicht - wie heute üblich - als gemeinsamer Verzicht in einer kritischen Situation gemeint, sondern als Zusammenschluss von Arbeitnehmern, die die Konkurrenz um Arbeit und Einkommen unter sich aufheben, um so wegen ihrer Nützlichkeit für die andere Seite ein Mehr für sich zu fordern und durchzusetzen. Ein Gedanke, der selbst bei den heutigen Gewerkschaften wenig verbreitet ist!
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