Wer profitiert von einheitlichem EU-Recht?
Darüber sollten Linke und Linksliberale nach dem Gerichtsurteil in Polen diskutieren, statt sich reflexartig auf eine Seite im Machtkampf innerhalb der EU zu stellen
Der jahrelange Streit zwischen der konservativen polnischen Regierung und der EU geht in eine nächste Runde, nachdem das Oberste polnische Gericht erklärt hat, dass nationales polnisches Recht Vorrang vor EU-Recht hat. Die Entscheidung war nicht überraschend. Schon vor einigen Wochen erinnerte ein regierungskritischer polnischer Ex-Richter daran, dass über die Frage, welches Recht Vorrang hat, nicht nur in Polen, sondern in vielen EU-Staaten gestritten wird, so auch in Deutschland. Womöglich ist schon vergessen, dass sich auch das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung vom 5. Mai 2020 erstmals in seiner Geschichte gegen die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs gestellt hat.
Es gab damit mehreren Verfassungsbeschwerden gegen das Public Sector Purchase Programme der Europäischen Zentralbank (EZB) statt. Das Bundesverfassungsgericht rügte dieses EZB-Programm zum Ankauf von Staatsanleihen als kompetenzwidrig. Die EZB habe zudem weder geprüft noch ausreichend dargelegt, dass ihre Maßnahmen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprächen. Die Aufregung war kurze Zeit auch deshalb besonders groß, weil damit eine Steilvorlage für Gerichte in Polen und anderen Ländern geliefert wurde, die ebenfalls anzweifeln, dass das Europäische Gericht einfach in allen EU-Ländern durchregieren kann.
Bestimmen immer EU-Gremien in letzter Instanz?
Das Urteil aus Polen böte jetzt die Chance, darüber zu diskutieren, ob ein solches einheitliches EU-Recht sinnvoll ist. Wem nützt es? Wem schadet es? Sorgt es nicht für noch mehr Politikverdrossenheit, wenn EU-Gremien, die vielleicht gerade mal in Abkürzungen bekannt sind, in letzter Instanz über die wesentlichen Politikinhalte europäischer Länder bestimmen? Wer kann auch nur einige wenige Namen von Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern nennen, die eben dann diese letzte Instanz in immer mehr Fragen in der EU sind?
Und warum setzen sich vor allem Grüne und Linksliberale so besonders für den Vorrang des EU-Rechts ein, die doch mal gegen zentralistische Entscheidungsstrukturen agiert haben und einer Dezentralisierung das Wort redeten? Politische Entscheidungen sollten transparent gemacht werden. Das war zumindest der politische Utopie vieler undogmatischer Linker und Linksliberaler. Ist nicht der EU-Apparat das genaue Gegenteil davon?
Wer bricht welches Recht?
Bemerkenswert ist auch der Tonfall vieler Kommentare in den Medien nach der Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts. Ihm wird Rechtsbruch vorgeworfen; und die EU-Gremien werden aufgefordert endlich zu handeln. Da wird glatt unterschlagen, dass nicht die polnische Regierung, sondern ein polnisches Gericht den Vorrang vor nationalen Recht erklärt hat. Nun wird sicher argumentiert, dass es zwischen der polnischen Regierung und dem Gericht eine hohe Übereinstimmung gibt.
Dass ist allerdings so verwunderlich nicht. Schließlich ist die rechtskonservative Regierung in mehreren bürgerlichen Wahlen mit großer Mehrheit gewählt worden. Selbst die unterlegene Opposition hat nie von Wahlbetrug gesprochen. Dass die Unabhängigkeit eines Gerichts nur dann anerkannt wird, wenn es in klarer Opposition zur Regierung steht, wird in der deutschen Presse nur dann gefordert, wenn es sich um Regierungen handelt, die deutschen Interessen nicht auffallend freundlich gegenüber stehen.
In Deutschland hat da Bundesverfassungsgericht immer wieder einmal Gesetze gekippt, das letzte Beispiel war der Berliner Mietendeckel. Doch es hat nie Entscheidungen infrage gestellt, die die deutsche Staatsraison betreffen. Daher scheiterten alle Versuche von Oppositionsparteien, beispielsweise Auslandseinsätze der Bundeswehr höchstrichterlich stoppen zu lassen. Sonst wäre das Gericht tatsächlich in Opposition zur Politik in Deutschland getreten.
Diese Rolle hat es aber abgelehnt. Für Polen wird aber wie selbstverständlich vorausgesetzt, dass das Oberste Gericht erst einmal seine Unabhängigkeit beweisen soll, indem es sich in Opposition zur dortigen Regierung stellt. Wenn es das nicht tut, wird ihm selber Rechtsbruch vorgeworfen und die EU-Gremien werden zum Handeln aufgefordert. Das kommt teilweise von den gleichen politischen Kräften, die jedes kritische Wort zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als Angriff auf die richterliche Unabhängigkeit interpretieren und zurückweisen.
Wenn dann in deutschen Medien ein polnisches Gericht wie ein Befehlsempfänger behandelt wird, muss man sich über die Reaktionen aus Polen nicht wundern. Diese Kommentare gerade aus Deutschland sind auch extrem geschichtsvergessen. Nur für Sonntagsreden hebt man sich dann die besondere historische Erinnerung an die deutsche Verbrechensgeschichte auch in Polen auf.
EU-Justizputsch gegen autoritäre Staaten?
Zu den wenigen nüchternen Kommentatoren gehört der Justizexperte der taz, Christian Rath. Er schreibt, dass die polnische Regierung recht hat, wenn sie darauf hinweist, dass die EU eigentlich keine Kompetenz hatte, den Aufbau der Justiz in den EU-Staaten zu kontrollieren. "Der Europäische Gerichtshof hat sich diese Macht durch ein strategisches Urteil 2018 selbst verschafft", so Rath.
Er hält diese Selbstanmaßung für richtig, weil es angeblich gegen autoritäre Staaten in der EU schützt. Doch genau das wäre zu diskutieren. Schließlich kann man die Anmaßung des Europäischen Gerichtshofs auch als eine versuchten Justizputsch im Interesse der die EU dominierenden Kapitalfraktionen interpretieren. Da Deutschland dort einen großen Einfluss hat, sieht es in diesen EU-Gremien seine Interessen gewahrt, um überall in der EU durchzuregieren.
Da werden dann immer die ominösen europäischen Werte in Anschlag gebracht. Wenn so viel von Werten statt von Interessen geredet wird, sollte man generell misstrauisch sein. Besonders weil diese europäischen Interessen scheinbar nichts mit Machtverhältnissen zu tun haben sollen und dementsprechend auch angeblich nicht veränderbar sind. Reduzieren sich diese europäischen Werte im wesentlichen auf die Kapitalinteressen der hegemonialen Mächte in der EU?
Liegt hier nicht auch der Grund, warum politische Kräfte, die sonst viel von Transparenz und Dezentralisierung reden, immer mehr Macht an EU-Gremien abgeben wollen? Kapitalkonforme Politik lässt sich umso leichter durchsetzen, je unbekannter die letzten Instanzen sind, die sie exekutieren. Solche Fragen sollten gerade Linke nach dem Urteil des polnischen Gerichts verstärkt diskutierten, statt sich im Machtkampf zwischen zwei Machtblöcken in der EU auf eine Seite zu stellen.