Wer reden will, muss auch rebellieren
Auch wenn die "tute bianche" in Genua auf der Straße gescheitert sind, genießen sie öffentliche Präsenz wie kaum eine andere linksradikale Gruppe in Europa und haben jetzt schon weitere Mobilisierungen im Auge
Seit den Protesten gegen den G 8 in Genua sind die tute bianche (auf Deutsch: "weiße Overalls") international in der Presse. Doch ihr Konzept und ihr Vorgehen kennen außerhalb Italiens nur wenige, obwohl sie auch im Ausland schon an Aktionen teilgenommen haben. In Italien wird bereits seit einigen Jahren als tute bianche agiert, d.h. während Aktionen und Demonstrationen tragen Leute, die etwas vorbereitet haben oder an einer angekündigten Aktion teilnehmen einen weißen Overall. Dies schuf im ersten Moment nicht nur größere Distanz zur Polizei (was heute nicht mehr der Fall ist), sondern auch mehr Aufmerksamkeit. Den weißen Overalls gelang es im Laufe der Jahre, kostenlose Züge zu Demonstrationen in Europa zu erringen, mit Presse in ein Mailänder Abschiebegefängnis zu gelangen und seine temporäre Schließung zu erzwingen, in Prag mit einem aufsehenerregenden Block an der Demonstration gegen kapitalistische Globalisierung teil zu nehmen und mit 300 tute bianche die Delegation der zapatistischen Comandantes im März 2001 durch Mexiko zu begleiten.
Während der vergangenen drei Jahre bauten die tute bianche ihr Konzept einer "defensiv-offensiven" Strategie auf Demonstrationen aus. Sie betonten, es handele sich um "zivilen Ungehorsam". Im Unterschied zu traditionellen Konzepten des zivilen Ungehorsams nehmen die tute bianche das Recht auf Selbstschutz in Anspruch. D.h. sie schützen sich und ihre Körper bei Angriffen der Polizei mit Polstern, Schilden, Helmen, Arm- und Schienbeinschützern, Handschuhen, Gasmasken und Gasschutzbrillen. Die Ausrüstung bleibt aber immer auf der Ebene nicht-offensiver Ausrüstung. Gleichzeitig wurde diese Vorgehensweise von ihnen immer sehr öffentlich gehandhabt und im Vorfeld angekündigt. Dies ermöglichte den tute bianche, die als solche im Nordosten Italiens entstanden sind, große Verbreitung, vor allem in Norditalien und Rom, zu erlangen. Gerade die Einschätzbarkeit ihrer Vorgehensweise und die Offenheit ihres Konzepts machte eine Verbreiterung der Bewegung möglich.
Nach dem Vorbild der Zapatisten führten sie vor dem Gipfel eine Befragung der Bevölkerung durch, ob es legitim sei, unter Einsatz des geschützten eigenen Körpers in die Rote Zone, das abgesperrte Gipfelgelände, vor zu dringen. So gelang es ihnen, eine breite öffentliche Debatte über ihr defensiv-offensiven Vorgehen zu führen. Nicht ganz ohne Erfolg im Meinungskrieg: Wenige Tage vor Beginn des Gipfels hielten laut einer Umfrage der bürgerlichen Tageszeitung "La Repubblica" 23% der italienischen Bevölkerung ein Eindringen in die Rote Zone für legitim.
In Genua beteiligten sich am Freitag, dem Tag der Blockade, 10.-15.000 Menschen an dem von ihnen mitinitiierten Demonstrationszug. Eine Größenordnung, die den Rahmen aller bisherigen tute bianche Aktionen sprengte und mit der sie selbst nicht gerechnet hatten. Die Militanz konzentrierte sich auf das Durchbrechen der Polizeiketten und der Stahlmauer auf dem Weg in die Rote Zone. Um einer breiten Öffentlichkeit ein politisch gezieltes offensives Vorgehen zu vermitteln, sollte kein Sachschaden in der Stadt angerichtet werden. Der "zivile Ungehorsam" der Bewegung zielt auf eine Verbreiterung der Aktionsformen der Anti-Globalisierungs-Bewegung nach dem Vorbild der Zapatisten. Vermittelbarkeit und Transparenz gehören so zu den wichtigsten Maximen. Die Ausrüstung, die sie zum Selbstschutz mit sich tragen - Helme, Körperschutz aus Schaumstoff und Plastik und Plexiglasschilde - ist im Rahmen der italienischen Gesetze weder explizit legal noch illegal. Dennoch, bzw. gerade deshalb war diese Demonstration den härtesten Angriffen von Seiten der Polizei ausgesetzt.
Doch auch wenn die tute bianche in Genua mit ihrem Konzept auf der Straße gescheitert sind, als Bewegung sind sie und die weiteren Netze der neuen italienischen Basislinken nicht gescheitert. Sie haben nach wie vor eine öffentliche Präsenz wie kaum eine andere linksradikale Gruppe in Europa, sie befinden sich immer noch in der Offensive und haben jetzt schon fest weitere Mobilisierungen im Auge. Chiara Cassurino aus Genua und Federico Martelloni aus Bologna, Aktivisten der tute bianche erläutern in einem Gespräch Entstehung und Hintergründe dieser italienischen Aktionsform.
Warum habt ihr die weißen Overalls gewählt?
Cassurino: Das Konzept der tute bianche bezieht sich auf die Analyse des Übergangs vom Fordismus zum Postfordismus. Ein Akkumulationsregime, das auf Massenproduktion in der großen Fabrik und den Fließbandarbeiter mit seiner parzellisierten Beschäftigung als zentrale Figur der Produktion und des Konflikts beruht, wird abgelöst von einem flexiblen, netzförmigen Arbeitssystem, in dem die atypische und selbständige Beschäftigung explosionsartig zunimmt und die Produzenten nicht mehr eine standardisierte, relativ homogene Lebensrealität teilen, sondern in viele verschiedene, plurale Subjektivitäten zersplittern. Das gemeinsame Merkmal bleibt die Enteignung, die jetzt noch größere Ausmaße annimmt, und zwar dadurch, dass das gesamte Leben "in Wert" bzw. "in Arbeit" gesetzt und als Ganzes der kapitalistischen Herrschaft unterworfen wird. Weiß, verstanden als Summe aller verschiedenen Farben, soll so als Darstellungsform für die Vielfältigkeit der verschiedenen Subjekte dienen, die sich gemeinsam gegen die kapitalistische Herrschaft auflehnen und sich innerhalb des Konfliktes als eine einzige Multitude wieder erkennen. In der klassischen Ikonografie ist weiß außerdem die Farbe der Gespenster, es ist ein Symbol für Unsichtbarkeit: die Unsichtbarkeit derer "ohne"; ohne Arbeit, ohne Papiere, ohne Garantien, ohne entsprechende Staatsbürgerschaft, ohne Rechte. Zugleich ermöglicht die kollektive Darstellung dieser Unsichtbarkeit das genaue Gegenteil, d.h. eine enorme Sichtbarkeit.
Welche Medienwirkung entwickeln die tute bianche in ihren Aktionen? Welche Veränderungen in der Kommunikation haben sie hervor gebracht?
Martelloni: Die zur Schau gestellte Unsichtbarkeit führt zunächst zu einer Überwindung der Abhängigkeit von den Produzenten der Medien, zu einer Art Umkehrung des Verhältnisses. Die breite Sichtbarkeit musste nicht von einem "freundlich gesinnten" Journalisten erbettelt werden, sondern ist- zumindest am Anfang - erobert worden, und zwar mit spektakulären Aktionen an Orten oder zu Gelegenheiten, die im Blickfeld der Medien waren. Basierend auf der Analyse der zentralen Rolle der Medien beginnt also die Phase des Eindringens in den mediatischen Raum. Wenn sich das Fernsehen oder die Zeitungen für vieles, was wir zu sagen haben, nicht interessieren, dann gehen wir auf sie zu. Mit der Zeit findet ein Rollenwechsel statt. Die tute bianche sind ein kleiner Akteur auf dem politischen Parkett, doch ihre Aktionen sind weitaus "appetitanregender" weil spektakulärer als die der traditionellen Akteure. Und mit Medien, die bereit sind, einem Raum zu geben, kann man viel anstellen. Uns wurde schnell klar, dass es notwendig ist, die Medien nutzen zu lernen. Sie stellen eine verzerrte Wirklichkeit dar, häufig verlogen, manchmal verleumderisch, aber nach einer Auseinandersetzung auf der Straße berichten sie auf jeden Fall Millionen von Leuten über dich. Also sollte man bereits im Vorfeld mit ihnen rechnen. Und dann kann man das ganze auch gleich so öffentlich machen, dass es anderen ermöglicht, sich an den geplanten Aktionen zu beteiligen, anstatt dass man weiterhin gegenüber den Massen klandestin bleibt aber bei der Polizei mehr als bekannt ist.
Ihr redet vom "zivilen Ungehorsam", dieser Begriff hat eine gewisse Geschichte. Damit wird manchmal assoziiert, dass auf offensiven Widerstand verzichtet werden soll. Was genau versteht ihr darunter, wie benutzt ihr den Begriff?
Cassurino: Wir wollen insofern innovativ sein, dass wir in das Konzept des zivilen Ungehorsams und des Widerstandsrechts neue Inhalte einführen. Es geht nicht nur darum NEIN zu sagen, Widerstand gegen die souveräne Macht zu leisten, sondern die Gesetze, Regeln, Normen und Institutionen, die politische, ökonomische und juristische Ordnung radikal in Frage zu stellen. Das bedeutet vor allem auch, ein positives Recht zu postulieren: Das Recht der rebellischen und antagonistischen Gemeinschaften, Formen der Kooperation und des kollektiven Lebens zu schaffen, die - im Verhältnis zur konstituierten Macht - "anders" sind. Auf dieser Grundlage ist es richtig, notwendig und möglich, die eigenen Räume und Rechte mit allen Mitteln zu verteidigen, auch durch Aktionen zivilen Ungehorsams, die den jeweiligen Situationen und allgemeinen Kräfteverhältnissen angemessen sind.
Inwiefern wollt ihr das Konzept ausdehnen, wie ihr es selbst formuliert habt?
Martelloni: Die Lektion des "fragend laufen", die wir von den Zapatisten gelernt haben, bezieht sich auf Form und Inhalt. Der zivile Ungehorsam ist ein Instrument, das in der Lage ist, Konflikt und Zustimmung zu erzeugen, so lange nicht das gemeinsame Ziel aus den Augen verloren wird. Unser Ziel bleibt aber die radikale Transformation des aktuellen Status Quo, die Befreiung vom Zwang der Arbeit, von der Sklaverei der Lohnarbeit, noch viel mehr innerhalb eines Produktionssystems, dass die Arbeit massiv reduziert, aber die Bürgerrechte und gar das Existenzrecht weiterhin an die Lohnarbeit koppelt. In diesem Rahmen steht z.B. auch der Kampf um das Existenzgeld. Oder das Problem der Rechte von MigrantInnen, das letzte Glied in der kapitalistischen Verwertungskette dieser postfordistischen Epoche, neue Sklaven mit dem Status von "Nicht-Personen", denen selbst das Recht auf Bewegungsfreiheit verweigert wird, während zugleich der Abbau von Grenzen für die Zirkulation von Waren und Geld weiter geht.
Die tute bianche sprechen häufig vom "Körper", welche Rolle spielt der Körper im Konzept der tute bianche?
Cassurini: So wie in der Vergangenheit die Arbeiter mit ihren Arbeitswerkzeugen auf die Straße gingen (Schraubenschlüssel, Sichel, Hammer), gehen wir heute mit unseren Arbeitswerkzeugen auf die Straße: Körper und Gehirn, die so wertvoll sind, dass wir beschlossen haben, sie mit Helmen, Schildern, Schaumgummi, augeblasenen Schläuchen, Kork und Plexiglas zu schützen. Um die Ziele, die wir uns gesetzt haben, zu erreichen, nutzen wir auch aktive Mittel, also nicht nur Helme, sondern auch Katapulte, dekorierte Wägen und all das, was unsere Phantasie hervor bringt. Der geschützte Körper, auch kollektiv geschützt, schafft Frauen und Männer, die wieder zu Protagonisten des Konfliktes werden, da die Praxis einschließend ist und die Angst vor Verhaftungen und Verletzungen überwunden werden kann, die entschlossen sind, ihre Ziele zu erreichen. Es handelt sich nicht mehr nur um eine subjektive Aneignung des Körpers, es geht auch darum, die Dimension zu sehen, in der "machen" und "sein" nicht mehr voneinander getrennt sind, sondern in einem einzigen Mechanismus der Produktion von Subjektivität zusammenfließen. Es geht um die Dimension der Biopolitik, der Politik des Lebens, der Politik der Körper. Biopolitik ist die Form von Politik, die aus dem Inneren des post-disziplinatorischen Paradigmas der Kontrolle die Möglichkeit eines kollektiven Handelns rekonstruiert. Die Gefahr dabei ist, sich in der Epoche zu irren und zum einzigen Ausdruck kollektiven Handelns zurück zu kehren, den wir zu kennen glauben: jenes vis-a-vis, die Gegenüberstellung von Massen, die so deutlich definiert ist, dass sie mittlerweile zu der Auseinandersetzungsform der Disziplin gehört. Die Gummireifen bedeuten hingegen den Übergang zu einer anderen Grammatik des Politischen ... Wir stehen etwas Neuem gegenüber. Seattle, Protest gegen die WTO. Die Körper werden weggetragen. Die Materialität der Körper, ihr Gewicht und ihre störende Anwesenheit betreten die politische Bühne. Die Herrschaft hatte sich ihre Oberfläche angeeignet, aber heute entdeckt die biopolitische Subjektivität ihre Materialität, ihre Tiefe, das Fleisch wieder. Und während die Körper ab Seattle als "Blockade-" oder "Abfederungswerkzeug" benutzt wurden, verwandeln sie sich in Quebec, in Göteborg und in Genua zu Mitteln der Belagerung, der Besetzung. Vom Ziel der Blockade der Delegierten der Gipfel ist zur Invasion und Besetzung des Raums, in dem die Gipfel stattfinden, übergegangen worden. Der Körper kehrt als konkretes Symbol des zivilen Ungehorsams wieder und ist das Paradigma dieser Ära der Biomacht, der Kontrolle über das Leben selbst.
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