Wer schreit, hat Unrecht, lieber Bundeskanzler
- Wer schreit, hat Unrecht, lieber Bundeskanzler
- Warum es nicht bei 18 Prozent für die AfD bleiben könnte
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Die AfD steht in einer wichtigen Umfrage bei 18 Prozent. Und Olaf Scholz schreit bei einem SPD-Europafest Kritiker an. Was beides miteinander zu tun hat. Ein Telepolis-Leitartikel.
Der Umgang etablierter politischer Kräfte und Medien mit dem Aufstieg der AfD erinnert ein wenig an die Phasen der Trauer. Und vielleicht ist es tatsächlich so, dass die Vertreter dieses fluiden, voneinander wenig abgegrenzten medial-politischen Betätigungsfeldes der alten Bundesrepublik nachtrauern. Mit ihrer klaren Ordnung; mit ihrer zementierten Aufteilung, politischer, finanzieller und diskursiver Macht.
Der jüngste ARD-Deutschlandtrend, in dem die AfD bekanntlich auf 18 Prozent geklettert ist, nun gleichauf mit den Sozialdemokraten, die, obwohl oder weil sie den Kanzler stellen, auf dieses Niveau abgerutscht sind, zeigt, dass das lange etablierte politische System ein für alle Mal Geschichte ist.
Doch seine Akteure leugnen den Umbruch und ihre Rolle darin hartnäckig. Das Hauptnarrativ erschöpft sich darin, sich von der AfD abzugrenzen und sie zu isolieren. Aber das Volk, das leider immer auch das Wahlvolk ist, will da nicht so recht mitmachen. Versuchen wir also, das Problem zu erfassen.
Zum einen müssen wir mit Blick auf die Republik, die vielschichtiger und differenzierter ist als das politische Berlin, feststellen, dass die AfD in Teilen des Landes zu einer akzeptierten politischen Kraft geworden ist. Denn während die etablierten Parteien und Medien sich an ihr abgearbeitet haben, hat sie sich an der Basis vernetzt und Vertrauen aufgebaut. Dies gilt vor allem für den Osten unseres Landes, mit Abstrichen aber auch für die südlichen Bundesländer.
Eine Schlussfolgerung ist, dass die Wähler der AfD nicht per se als rechtsextrem bezeichnet werden können; wer dies weiterhin behauptet, macht es sich aus Bequemlichkeit oder mangelnder Verständnisfähigkeit zu einfach.
Offenbar gibt es andere Motive – Sorgen, Ängste, Enttäuschungen –, die von den etablierten Parteien und auch von den Medien nicht hinreichend ernstgenommen werden.
Exemplarisch dafür steht ein Auftritt von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kürzlich im brandenburgischen Falkensee bei Berlin. Als der Sozialdemokrat von politischen Gegnern in Sprechchören als "Kriegstreiber" beschimpft und mit anderen Unflätigkeiten bedacht wurde, konterte er ebenso lautstark und sichtlich erzürnt.
In den Leitmedien von Tagesschau bis Spiegel wurde er dafür gefeiert, viele hoben seine spontane Anrede an die "lieben Schreihälse" hervor. Dabei war es eigentlich eine unangenehme Szene: Schreihals gegen Schreihälse.
Denn die Videoaufnahmen jedweder Perspektive zeigen Brüllerei allerseits: bei den kollektiven Scholz-Gegnern vor der Bühne und bei Scholz auf der Bühne – er freilich abgeschirmt vom Personenschutz des BKA und Kraft des ihm verliehenen Mikrofons.
Das Falkenseer Intermezzo belegt damit in seltener Deutlichkeit vor allem die Sprachlosigkeit – denn Brüllen ist die schlechteste aller Kommunikationsformen – und Debattenunfähigkeit führender Parteien. In diesem Fall sogar des führendsten aller Parteipolitiker.
Nun ist Falkensee aber auch Sitz des rechtspopulistischen Magazins Compact, herausgegeben von dem Journalisten Jürgen Elsässer, der früher links war und heute auf die lukrativere Gegenseite gewechselt ist. Aus welcher politischen Ecke die Demonstranten kamen, ist also naheliegend – aber keineswegs geklärt. Denn auch die Leitmedien fragen nicht danach. Wer "Kriegstreiber" ruft, ist dort automatisch rechts und steht dem Kreml nahe. Da recherchiert kaum noch jemand.
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