"Wertegemeinschaft Europa": Feindbilder statt Vorbild

Seite 2: Brexit, Visegrád-Gruppe und andere: Zweifel am Nutzen Europas

Der "Brexit" von Großbritannien ist der prominenteste und für die EU schmerzlichste Fall. Im United Kingdom hat sich die Einschätzung durchgesetzt, dass das Land ohne die Union besser dastehen wird als mit ihr.

Der Verlust von ökonomischer Macht im Vergleich zu Deutschland und Frankreich, in der europäischen Rangordnung damit hinter die "deutsch-französische Achse" gefallen zu sein, die EU-Regeln aus Brüssel für einen weiter erfolgreichen Binnenmarkt als Drangsalierung und Eingriff in die eigene Souveränität zu betrachten – all dies fiel zumindest bei einem Teil der politischen Elite und etwas mehr als der Hälfte der befragten Bevölkerung auf fruchtbaren Boden. Der Erhalt der "Wertegemeinschaft" spielte bei der Entscheidung keine Rolle.

Die Briten sind indes kein Einzelfall. Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei haben sich innerhalb der EU in der "Visegrád-Gruppe" zusammengeschlossen. Sie versuchen damit, ein Gegengewicht gegen die Dominanz Deutschlands und Frankreichs zu schaffen.

Die Länder finden sich in der Rolle von Billiglohnländern für das Kapital des einstigen europäischen "Westens" wieder. Das hatten sie sich nach ihrem Beitritt in die Union im Zuge der Auflösung der Sowjetunion anders vorgestellt.

Mit der Übernahme der "Werte" des siegreichen Westens – Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft – sahen sie sich auf dem Weg in eine erfolgversprechende Zukunft. Die zunehmend so aussieht, dass die wirtschaftliche Attraktion dieser Staaten hauptsächlich im niedrigen Lohnniveau besteht, das die großen Konzerne aus Deutschland & Co. für ihre Produktion weidlich ausnutzen.

Die Zuschüsse der EU kompensieren nicht die aus dem Land gezogenen Profite, und immer mehr Facharbeitskräfte verlassen den Osten, um woanders mehr Geld zu verdienen. Von der "Wertegemeinschaft" haben die Visegrád-Staaten jedenfalls nicht erkennbar profitiert. Und das – Ironie der Geschichte – obwohl sich einst gerade deren Politiker von der Übernahme der Werte so viel versprochen hatten.

Die Enttäuschung geht bei den Visegrád-Staaten aber noch nicht so weit wie bei den Briten. Sie versuchen EU-intern ihre Position zu verbessern, verstehen sich auch als "Vermittler zwischen der EU und ihren östlichen Nachbarn".

Während sie in der "Flüchtlingsfrage" EU-Beschlüsse zur Aufnahme von Kontingenten ignorieren, sind die umfangreichen Finanzspritzen aus Brüssel zur Bewältigung der "Coronakrise" willkommen.

Die Werte "Rechtsstaat" und "Pressefreiheit" definieren vorwiegend Ungarn und Polen für sich neu. Damit demonstrieren sie ihre Souveränität gegen die EU und deren Begriff der Wertegemeinschaft. Das ist die Antwort auf den ausbleibenden Erfolg innerhalb der Union: Den nationalen Standpunkt wieder hervorkehren, die Unabhängigkeit beweisen, um so mangels ökonomischer Macht dennoch im politischen Geschachere bessere Karten zu haben.

Die "Wertegemeinschaft" der EU-Mitgliedsstaaten kürzt sich zusammen auf das Interesse jeder Nation, zu ihrem Sondervorteil eine Einheit mit den anderen Nationen herzustellen. Ein Sondernachteil sollte tunlichst nicht damit verbunden sein. Um der Nation willen, für den Erfolg in der Weltkonkurrenz geben diese Staaten Teile ihrer nationalen Souveränität an "Brüssel" ab.

Am Wert "Erfolg" bemisst sich, inwiefern diese widersprüchliche Rechnung für die jeweilige Nation aufgeht. Darin sind sich alle Mitgliedsländer einig, darin liegt ihre tatsächliche Gemeinschaft.

Flucht nach vorn: Trotz innerer Krisen rüstet die EU auf

Das "Friedensprojekt Europa" handelt so gar nicht friedlich. Es will viel nachholen im Vergleich zu den großen Konkurrenten USA und China – bei der Rüstung und bei der digitalen Schlüsseltechnologie. Es will ihnen darüber hinaus Anteile am wachsenden Markt für Klimaschutz abjagen, gegen sie zum führenden Anbieter werden.

Und es will sich weniger angreifbar machen durch autarke Energieversorgung. Das Elend in der Welt soll der EU dabei nicht in die Quere kommen, sondern schön draußen bleiben. Es sei denn, dringend benötigte Fachkräfte wollen hinein oder kapitalkräftige Investoren.

Natürlich verfolgen die Europäer ihre Interessen nicht einfach so. Vielmehr treten sie unter dem Banner höherer Werte an, wollen also nur das unbestreitbar Gute. Umso mehr sind sie daher berechtigt zur "Verteidigung" gegen all jene, die ihren Siegeszug für "Freedom and Democracy" behindern. Wer angesichts dessen nicht "für Europa" ist, hat einfach kein Verständnis für die Nöte von Politik und Kapital.