Wie Julian Assange in Großbritannien gefoltert wird
Seite 2: Medienversagen
Gleichzeitig ortet der Schweizer aber auch ein Versagen des traditionellen Journalismus, der offenbar nicht mehr auf ausreichende Weise in der Lage ist, das Tun der Mächtigen auf diesem Planeten zu kontrollieren.
Melzer ist klug genug, um eine solche Konstruktion wie Wikileaks als eine Antwort auf diese Unzulänglichkeit der herkömmlichen Medien zu verstehen, das heißt als eine Art "Überdruckventil", wie er es selbst nennt. Diejenigen, die über Missstände, Korruption, über politische und militärische Verbrechen Bescheid wussten und entsprechende Beweise und Dokumente vorlegen konnten, sonst aber keine Wege fanden, um das publik zu machen, bekamen nun eine Möglichkeit. Darin besteht das "Whistleblowertum".
Um das Problem zu demonstrieren, kann ich zur Probe an die Leser meines Artikels einmal eine ehrliche Frage stellen: Was wissen wir alle eigentlich beispielsweise vom Krieg in Afghanistan und im Irak? Was wissen wir wirklich davon, was die Armeen der USA und ihrer Bündnispartner, was ihre Soldaten und Geheimdienste auf dem Planeten alles tun, mit welchen Einsätzen wo und wie sie gerade beschäftigt sind, was sie Tag für Tag machen, vielleicht jetzt gerade, wo Sie meinen Text lesen?
Wenn wir darüber in aller Ehrlichkeit nachdenken, dann müssen wir uns eingestehen: im Grunde jämmerlich wenig. Über jeden Klatsch zum britischen Königshaus erfahren wir mehr, da werden wir in allen Details zugeschüttet. Jede schöne Phrase, die der neue US-Präsident Joe Biden bei einer Rede von sich gibt, wird millionenfach kopiert und weiterverbreitet. Von der Politik lernen wir immer nur die Fassade kennen. Von wirklich wesentlichen Dingen aber haben wir oft nur ein sehr grobes, verschwommenes Wissen. Und das ist kein Zufall, die sind unter Verschluss.
Was hören wir von den Kriegsfronten? Ab und zu in den Nachrichten zwei, drei sehr allgemein gehaltene Absätze. Sollte uns das nicht auffallen und zu denken geben?
Wikileaks hat genau das durchbrochen. Und es geht dabei bei weitem nicht bloß um das Collateral-Murder-Video, das in diesem Zusammenhang immer erwähnt wird. Melzer weist in seinem Buch eigens darauf hin, dass Aussagen von Veteranen zufolge solche von US-Soldaten willkürlich verübten Massaker keineswegs eine Ausnahme darstellten, sondern an der Tagesordnung waren. Von einem Einzelfall kann demnach keine Rede sein. Wikileaks aber hat auf einmal genau diesen brutalen Kriegsalltag an die westliche Öffentlichkeit gebracht. Erstmals bekamen wir ein halbwegs realistisches Bild von dem, was da in diesen fernen Ländern wirklich alles passierte.
Schweden und die US-Geheimdienste
Und genau das durfte nicht geschehen. Wir hatten von Dingen erfahren, von denen wir niemals etwas erfahren hätten sollen. Es ist auch alles andere als ein Zufall, dass es zum Vergewaltigungsvorwurf gegen Assange gerade zu dem Zeitpunkt kam, als Wikileaks soeben in Zusammenarbeit mit großen Medienhäusern das "Afghan War Diary" publiziert hatte und noch weitere Veröffentlichungen vorbereitete. Melzer legt in seinem Buch dar, wie das Handeln der schwedischen Behörden eine Reaktion auf genau diese Situation war.
Man darf an dieser Stelle nicht in den Fehler verfallen, die willige Zusammenarbeit der schwedischen Behörden mit dem amerikanischen Geheimdienst zu unterschätzen. Melzer erinnert daran, dass Schweden auch schon mal zwei ägyptische Asylwerber ohne jedes rechtsstaatliche Verfahren der CIA übergeben hatte. In der Folge wurden sie in ihr Heimatland verschleppt und dort gefoltert. Es handelt sich hier also um eine ungeheuer enge und hörige Partnerschaft. Sobald Assange Schweden betrat, wurde er als Staatsfeind betrachtet und buchstäblich jeder Schritt von ihm wurde überwacht.
Erst vor diesem Hintergrund ist verstehbar, was alles in der Folge geschehen ist. Freilich war nichts davon in der Form im Vorhinein geplant. Aber als dann zwei Frauen zur Polizei gingen und eigentlich ein ganz anderes Anliegen hatten als den Wikileaks-Gründer wegen Vergewaltigung anzuzeigen, bot sich plötzlich eine günstige Gelegenheit.
Auch an dieser Stelle muss man einmal mehr auf die Mitverantwortung der Medien hinweisen. Die Presse war gut darin, das ihr von den schwedischen Behörden - bei Verstoß gegen alle diesbezüglichen Vorschriften und noch bevor überhaupt irgendeine Anzeige vorlag - sofort zugespielte Vergewaltigungsnarrativ gierig aufzusaugen und in Windeseile um den ganzen Erdball zu verbreiten.
Keiner dieser Reporter aber hat sich offenbar die Mühe genommen, zu recherchieren, was eigentlich die Grundlage dieser Meldungen war. Allein, dass nach vielen Jahren ein UN-Sonderbeauftragter offenbar der Erste war, der sich die Akten überhaupt ansah und ihren Inhalt überprüfte, ist schon ein Skandal für sich und ein Armutszeugnis für den Journalismus.
Das Narrativ des flüchtigen Vergewaltigers
Melzer ist kein naiver Assange-Fan. Gerade in dem Abschnitt des Buches, das den Vergewaltigungsvorwurf abhandelt, zeigt sich seine Objektivität und Unparteilichkeit. Er beschönigt nichts. Dass der Wikileaks-Gründer sich den beiden Frauen gegenüber auf eine Art und Weise verhalten hatte, die nicht in Ordnung war, lässt er klar hervortreten. Und dennoch: Für eine Anklage hätte es nie gereicht, und das wussten alle darin involvierten Amtsträger von Anfang an.
Akribisch zeichnet der Schweizer die schier unzähligen Rechtsverstöße und Intrigen nach, mittels derer Assange der Verfolgung ausgesetzt wurde. Nur mit viel Mühe und auch mithilfe gefälschter Unterlagen gelang es der Staatsanwältin Marianne Ny überhaupt, das Verfahren, das anfangs sehr rasch eingestellt worden war, wieder zum Leben zu erwecken und dann über Jahre lang in der Schwebe zu halten.
Unwahr ist auch das von ihr in Umlauf gesetzte Narrativ, Assange hätte sich der Justiz des Landes entzogen, er sei ein Flüchtiger. Ganz im Gegenteil, er blieb des Verfahrens wegen eigens in Schweden, einen ganzen Monat länger, als er ursprünglich vorgehabt hatte, und stellte sich vollständig zur Verfügung, auch dann, als das immer schwieriger für ihn wurde - unter anderem deswegen, weil seine Aufenthaltserlaubnis ablief und ihm auf Druck der USA sämtliche Kreditkarten gesperrt worden waren. Als es aber zu spät war, als er endlich abfliegen musste, gerade in diesem Moment, als er schon am Flughafen war, da erlässt Ny ganz plötzlich einen Haftbefehl. Es ging dabei auch gar nicht darum, Assange zu verhaften und die Vergewaltigungsvorwürfe aufzuklären, sondern, so Melzer, "darum, das Narrativ eines flüchtigen Sexualverbrechers zu perpetuieren".
Vieles andere fügt sich hinzu: Ny erlässt einen Europäischen Haftbefehl, obwohl das nicht einmal in ihre Zuständigkeit als Staatsanwältin fällt und überdies gegen alle rechtlichen Gepflogenheiten verstößt, solange keine Anklage erhoben worden ist. Mit was für absurden juristischen Winkelzügen die britische Justiz das Gesuch trotzdem als legal anerkannt und alle Einsprüche der Anwälte Assanges abwehrt, lässt einen mit den Ohren schlackern, und schon deswegen ist das Buch des UN-Sonderbeauftragten der Lektüre wert.
Die Rolle Ecuadors
Mit gleicher Blauäugigkeit wie das Vergewaltigungsnarrativ wurde auch anderes im öffentlichen Diskurs weitergetragen, ohne dass man sich je die Mühe machte, den Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Etwa die von den ecuadorianischen Behörden später gezielt in Umlauf gesetzten Vorwürfe, Assange hätte während seines Asyls in der Botschaft des Landes Fußball gespielt, seine Katze gequält und die Wände mit Exkrementen beschmiert. Melzer weist darauf hin, dass für all das kein einziger Beweis existiert, keine Videoaufzeichnung, und das, obwohl jede Bewegung Assanges rund um die Uhr von Kameras aufgezeichnet wurde, sogar auf der Toilette.
Selbst jenes Video, das angeblich belegen soll, er wäre in der Botschaft wild Skateboard gefahren, zeigt bei näherem Hinsehen etwas ganz anderes. Assange kann nicht einmal das Gleichgewicht auf dem ruhenden Brett halten. Das geübte Auge des UN-Sonderberichterstatters, der schon vielen Folteropfern von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden ist, erkennt sofort, was hier Sache ist. Im gesamten Erscheinungsbild des Australiers drückt sich, so Melzer, eine Symptomatik aus, ein körperlicher und seelischer Verfall, wie er charakteristisch für Personen ist, die grausamer, unmenschlicher Behandlung ausgesetzt sind.
Haben Sie überdies schon einmal darüber nachgedacht, warum Assange derart verwahrlost und um Jahre gealtert wirkte, mit langen, verfilzten Haaren und einem dichten, ungepflegten Vollbart, als er am 11. April 2019 schließlich von der Polizei aus der ecuadorianischen Botschaft gezerrt wurde? Nun, die Antwort ist viel perfider, als Sie es sich vermutlich träumen haben lassen. Drei Monate vor seiner Verhaftung hatte man ihm sein Rasierzeug weggenommen - eine der unzähligen Schikanen, denen Assange ausgesetzt worden war.
Die unwürdige Erscheinung des Australiers war ganz bewusst inszeniert worden, passte sie doch zu dem Narrativ des "Monsters" Assange, das man nähren wollte. Je unsympathischer, abstoßender und lächerlicher er bei seiner Verhaftung aussah, desto besser. Dass der ganze Vorgang sowieso illegal war, weil man ihm Asyl und ecuadorianische Staatsbürgerschaft ohne irgendein rechtsstaatliches Verfahren entzogen hatte, kommt noch hinzu.
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