Wie Noam Chomsky Opfer eines Fake-News-Angriffs wurde
Hat der 94-Jährige wirklich den russischen Krieg gegen die Ukraine beschönigt? Das berichtete eine britische Zeitung. Hier die wahre Geschichte. Der Telepolis-Leitartikel.
Dieser Beitrag über ein Interview mit dem US-amerikanischen Intellektuellen Noam Chomsky hat für Aufsehen gesorgt. Vor gut einem Monat, Ende April, erschien in der britischen Wochenzeitung New Statesman ein Text, in dem der inzwischen 94-jährige Chomsky das militärische Vorgehen Russlands in der Ukraine als vergleichsweise zurückhaltend bezeichnet haben soll. "Russland kämpft humaner als die USA im Irak", titelte das Blatt – doch das hatte Chomsky nie gesagt.
Dass dies zunächst nicht publik wurde, lag am New Statesman selbst. Die Redaktion stellte zwar den Text ihres Berliner Korrespondenten Ido Vock online, der mit Chomsky gesprochen hatte. Doch das Video des Interviews suchte man auf der Homepage vergeblich.
Inzwischen ist klar: Chomsky, ein exponierter Vertreter der US-Friedensbewegung, hat den Krieg Russlands gegen die Ukraine weder als "human" noch als "humaner" bezeichnet. Auch nicht, dass Russland militärisch "zurückhaltend und moderat" auftrete. Beide Aussagen, die Chomsky massive Kritik einbrachten, wurden ihm in den Mund gelegt.
"Wir haben keine Abschrift veröffentlicht, aber das vollständige Interview sollte als Podcast auf dem New Statesman World Review Feed verfügbar sein, wenn Sie es sich anhören wollen", schrieb Vock am 1. Mai auf Anfrage unserer Redaktion.
Tatsächlich erschien das Gespräch nur auf Youtube und nicht, wie sonst üblich, auf der Homepage der Zeitung selbst. Und während es auf der Videoplattform denselben manipulativen Titel trägt wie in der Printversion, wurde er für den Spotify-Podcast geändert. "Noam Chomsky: Don’t underestimate the risk of nuclear war", heißt es dort.
Video- und Audioversion aber belegen: Chomsky hat die angeblich skandalösen Aussagen nie getätigt. "Die Schlagzeile stammt nicht von mir, sondern von meinen Redakteuren", schrieb Vock dazu auf Telepolis-Anfrage. Die angebliche Aussage zum "zurückhaltenden und moderaten" Krieg Russlands "war meine redaktionelle Formulierung, kein Zitat".
Der vermeintliche Skandal um den Friedensaktivisten und US-Regierungskritiker Chomsky trifft also nicht ihn, sondern die Arbeit des "New Statesman", der seinen Interviewpartner entgegen jeder journalistischen Ethik und bar jedes Belegs in die Nähe des Kremls gerückt hat.
Nichts könnte Chomskys Positionen ferner liegen! In einem Interview mit dem Politikwissenschaftler C.J. Polychroniou, das Telepolis in Zusammenarbeit mit dem US-Magazin Truthout auf Deutsch veröffentlichte, sagte er bereits im November 2022:
Putin lehnte die Bemühungen des französischen Präsidenten Macron bis fast zur letzten Minute ab, Russland eine gangbare Alternative zur Aggression anzubieten. Er wies das Angebot am Ende mit Verachtung zurück – und schoss sich und Russland damit selbst ins Knie, indem er Europa in die Arme Washingtons trieb, was die USA sehnlichst erträumten. Neben dem Verbrechen der Aggression beging er (...) noch das Verbrechen der Dummheit.
Es sind Fake News, aber es sind unsere Fake News
Auf diesen Widerspruch hatte ich bereits kurz nach Erscheinen des Berichts im New Statesman hingewiesen:
Die kontroverseste Einschätzung, die der New Statesman dann auch in die Überschrift hob, traf Chomsky auf eine Frage des Journalisten Ido Vock hin, von dem auch die Wortwahl stammt.
Zu diesem Schluss kommt auch der französisch-libanesische Politologe und Soziologe Gilbert Achcar. Der Interviewer habe Chomsky die umstrittenen Äußerungen "buchstäblich in den Mund gelegt", kritisierte er: "Chomskys Absicht war eindeutig, die Grausamkeit der US-Bombardierung des Irak hervorzuheben und nicht die Brutalität der russischen Bombardierung der Ukraine zu verharmlosen."
Dass die Phrase vom "humaneren" Krieg auch noch in den Titel gehoben wurde, als handle es sich um ein Zitat Chomskys, "ist schlicht unredlich", so Achcar.
Der Fall des New Statesman zeigt vor allem, wie sehr eine sensationslüsterne und ideologische Berichterstattung journalistische Standards untergräbt. Auch bei uns im Westen. Auch in der sogenannten Qualitätspresse. Und wie die politische Polarisierung Fake News begünstigt, wenn sie der vermeintlich richtigen Sache dienen.
Denn außer Achcar und einigen Bloggern hat kaum jemand den Fake-Bericht des New Statesman in Frage gestellt. In der englischsprachigen Wikipedia tauchen die beiden gefälschten Zitate allerdings als Chomskys "Ansichten über Russland" auf. Sie dürften sich also weiter verbreiten. Und schon ist die Parallelwirklichkeit perfekt.
Dass der Vorgang nicht kritischer kommentiert wird, ist ein Problem. Wenn Kritiker der Nato-Ukraine-Politik schon damit rechnen müssen, unwidersprochen Opfer prowestlicher Fake-News-Attacken zu werden, dann hat die politisch-mediale Auseinandersetzung einen neuen, gefährlichen Tiefpunkt erreicht.
Dabei hat die Polarisierung schon jetzt Opfer gefordert. Der deutsche Brigadegeneral a.D. Erich Vad etwa möchte sich nach massiven Angriffen auf seine Person nicht mehr befragen lassen. Er habe sich nie den Mund verbieten lassen, sagte er der Neuen Zürcher Zeitung Mitte März: "Doch ich sehe keinen Sinn mehr, mir diesen Hass, diese Häme anzutun. Das ist mein letztes Interview. Es ist vorbei."
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