Chomsky: Chance auf Diplomatie schwindet mit russischer Eskalation

Vlad Tanyuk steht neben dem Grab seiner Mutter Ira Tanyuk, die an den Folgen von Hunger und Stress durch den Krieg gestorben ist. Bild: Rodrigo Abd / CC BY 2.0

Putin lässt Infrastruktur in Ukraine bombardieren. Zeitgleich: Anti-Verhandlungskurs der USA wird von Teilen des Establishments und in Europa in Frage gestellt. Welche Auswege aus der Kriegs-Sackgasse gibt es noch?

Russlands Krieg in der Ukraine dauert nun schon rund neun Monate an und ist inzwischen auf ein tödliches Niveau eskaliert. Putin nimmt die Energieinfrastruktur der Ukraine ins Visier und hat wiederholt das Schreckgespenst Atomwaffen heraufbeschworen. Die Ukrainer hingegen glauben weiterhin, dass sie die Russen auf dem Schlachtfeld besiegen und sogar die Krim zurückerobern können. In der Tat sind keine Wege erkennbar, wie dieser Krieg zu einem Ende gebracht werden könnte. Noam Chomsky legt in dem Interview dar, warum die Eskalation des Konflikts diplomatische Optionen noch weiter in den Hintergrund gedrängt hat.

Noam Chomsky ist Professor für Linguist, US-Kritiker und Aktivist. Er hat rund 150 Bücher geschrieben.

Das Interview führt der Politikwissenschaftler C.J. Polychroniou und erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Truthout, wo Sie die englische Version finden.

Noam, der Krieg in der Ukraine dauert nun rund neun Monate, und statt einer Deeskalation steuert er auf eine "unkontrollierte Eskalation" zu. Tatsächlich wird er zu einem Krieg ohne Ende, da Russland in den letzten Wochen die ukrainische Energieinfrastruktur ins Visier genommen und seine Angriffe in der östlichen Region des Landes verstärkt hat, während die Ukrainer immer mehr Waffen aus dem Westen anfordern, da sie glauben, dass sie das Potenzial haben, Russland auf dem Schlachtfeld zu besiegen. Kann die Diplomatie beim gegenwärtigen Stand der Dinge den Krieg beenden? Wie kann man einen Konflikt deeskalieren, wenn die Eskalationsstufe so hoch ist und die Konfliktparteien offenbar nicht in der Lage sind, eine gemeinsame Entscheidung über die Streitfragen zu treffen? Russland wird zum Beispiel niemals akzeptieren, dass die Grenzen auf den Stand vor dem 24. Februar, dem Beginn der Invasion, zurückgesetzt werden.

Noam Chomsky: Die Tragödie ist vorprogrammiert. Lassen Sie uns kurz auf das zurückblicken, worüber wir seit Monaten diskutieren.

Vor dem Einmarsch Putins gab es Optionen, die im Allgemeinen auf den Minsker Vereinbarungen beruhten und die das Verbrechen hätten verhindern können. Über die Frage, ob die Ukraine diese Vereinbarungen akzeptierte, wird noch debattiert. Zumindest verbal scheint Russland das bis kurz vor dem Einmarsch getan zu haben. Die USA verwarfen sie zugunsten der Integration der Ukraine in das militärische Kommando der Nato (d. h. der USA) und weigerten sich, wie in Washington zugegeben wird, die russischen Sicherheitsbedenken zu berücksichtigen.

Diese Schritte wurden unter Biden noch beschleunigt. Hätte es der Diplomatie gelingen können, die Tragödie abzuwenden? Es hat nur eine Möglichkeit gegeben, das herauszufinden: indem man den Versuch unternommen hätte. Doch diese Möglichkeit wurde ignoriert.

Putin lehnte die Bemühungen des französischen Präsidenten Macron bis fast zur letzten Minute ab, Russland eine gangbare Alternative zur Aggression anzubieten. Er wies das Angebot am Ende mit Verachtung zurück – und schoss sich und Russland damit selbst ins Knie, indem er Europa in die Arme Washingtons trieb, was die USA sehnlichst erträumten. Neben dem Verbrechen der Aggression beging er, aus seiner Sicht, noch das Verbrechen der Dummheit.

Die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland fanden erst im März/April unter türkischer Schirmherrschaft statt. Sie sind gescheitert. Die USA und Großbritannien lehnten sie ab. Da dem Scheitern nicht weiter nachgeforscht wurde – was zeigt, wie Diplomatie in Mainstream-Kreisen geringgeschätzt wird –, wissen wir nicht, inwieweit die Ablehnung ein Faktor für das Scheitern war.

Washington ging zunächst davon aus, dass Russland die Ukraine in wenigen Tagen erobern würde, und bereitete eine Exilregierung vor. Militäranalysten waren überrascht von der militärischen Inkompetenz Russlands, dem bemerkenswerten ukrainischen Widerstand und der Tatsache, dass Russland nicht dem erwarteten US-amerikanisch-britischen Kriegsmodell folgte (das auch Israel im wehrlosen Gaza-Streifen anwendet), den Gegner umgehend lahm zu legen, indem mit konventionellen Waffen die Kommunikation, der Transport, die Energieversorgung und alles, was die Gesellschaft am Laufen hält, zerstört wird.

Die USA haben dann eine verhängnisvolle Entscheidung getroffen: den Krieg fortzusetzen, um Russland ernsthaft zu schwächen. Damit wurde Verhandlungen ausgewichen und ein verheerendes Glücksspiel begonnen mit der Erwartung, dass Putin bei einer Niederlage einfach seine Sachen packen und verschwinden, jedoch nicht die konventionellen Waffen, über die er verfügt, zur Zerstörung der Ukraine einsetzen werde.

Wenn die Ukrainer dieses Risiko eingehen wollen, ist das ihre Sache. Die Rolle der USA fällt jedoch in unseren Verantwortungsbereich.

Nun ist Putin zu der erwarteten Eskalation übergegangen, indem er "in den letzten Wochen die Energieinfrastruktur der Ukraine ins Visier genommen und seine Angriffe im Osten des Landes verstärkt hat". Putins Eskalation nach dem Vorbild der USA, Großbritanniens und Israels wurde zu Recht wegen ihrer Brutalität verurteilt – verurteilt von denen, die das westliche Original mit wenig oder gar keinem Widerspruch immer wieder hinnehmen wie auch Kriegs-Glücksspiel, das den Grundstein für die Eskalation gelegt hat, wovor die ganze Zeit gewarnt wurde. Niemand wird dafür zur Rechenschaft gezogen. Aber wir sollen einige Lehren daraus ziehen.

Während äußerst moderate liberale Aufrufe, die mahnen, neben der vollen Unterstützung für die Ukraine auch eine diplomatische Option in Betracht zu ziehen, massiv verunglimpft wurden und manchmal aus Angst ihre Forderung zurückzogen, sind Stimmen, die aus dem Mainstream-Establishment zur Diplomatie aufrufen, von dieser Behandlung ausgenommen, einschließlich Mahnungen in der bedeutenden Establishment-Zeitschrift Foreign Affairs.

Es könnte sein, dass die konservativen Bedenken gegenüber dem zerstörerischen Krieg mit seinen bedrohlichen Folgen die neokonservativen Kriegsfalken erreichen, die Bidens Außenpolitik voranzutreiben scheinen. Darauf deuten einige der jüngsten Äußerungen der Falken hin.

Auch andere Einwände könnten sie erreichen. Während sich die amerikanischen Energie- und Militärkonzerne ins Fäustchen lachen, wird Europa durch den Lieferstopp Russlands und die von den USA initiierten Sanktionen schwer getroffen. Das gilt insbesondere für den deutschen Industriekomplex, der die Grundlage der europäischen Wirtschaft bildet. Es bleibt eine offene Frage, ob die europäischen Staats- und Regierungschefs bereit sein werden, den wirtschaftlichen Niedergang Europas und die zunehmende Unterordnung unter die USA einfach so hinnehmen werden, und ob ihre Bevölkerungen die Konsequenzen der Unterordnung tolerieren werden.