Wie aus Elektronik Pop wurde
30 Jahre Human League
1977 gab es mehrerlei Arten langweiliger Musik. Oberschüler bevorzugten prätentiösen Progressivrock von Emerson Lake and Palmer und Pink Floyd oder nervtötenden Jazzrock von Billy Cobham und Weather Report. Discomusik hatte einige Höhen und viele Tiefen. Sarah Kuttner hieß damals noch Helga Feddersen, und die Sex Pistols waren ein dilettierender Haufen Skandalnudeln, vergleichbar in etwa mit Paris Hilton und Britney Spears zusammen in einer Band.
Da hatten Ian Craig Marsh und Martyn Ware, zwei Computertechniker, denen es im Labour-regierten Sheffield bei der Arbeit langweilig geworden war, die Zeit und das Geld mit elektronischer Musik zu "experimentieren" (dieser Begriff wurde in der Musik damals für das Auswalzen einer oder gar keiner Idee in schlampiger Form verwendet). Zu dem Duo, das sich die "Dead Daughters" nannte, stieß im Juni kurzzeitig das spätere Clock DVA-Mitglied Adi Newton, das kurz darauf durch den Krankenhausportier Phil Oakey ersetzt wurde. Jetzt wehte ein anderer Wind durch das ehemalige Experimentalprojekt, das sich nun nach einem SF-Brettspiel "Star Force" nannte:
"Alles was wir immer wollten, war Donna-Summer- Platten machen. Wir waren nicht aus freien Stücken experimentell. Wir wollten Nr. 1 werden. Wir konnten es bloß nicht, weil wir nichts über Musik wußten." (Phil Oakey 1984)
Im Januar 1978 nahmen die drei ihr erstes 2-Spur Demo in Mono auf. Es enthält das später zu einem EBM-Klassiker mutierte "Being Boiled", "Circus of Death" und "Toyota City".
Bis dahin unterschieden sich die Sheffielder kaum von anderen Experimentalbands, die unter dem Deckmäntelchen einer neuen Produktivkraft (Elektronik) ihr formalistisches Süppchen kochten. Bei ihrem ersten Auftritt spielte die Band jedoch eine Version des Righteous Brothers-Herzensbrechers "You`ve lost that loving feeling" und erfand dadurch die elektronische Popmusik. Aus Versuchen mit reinem Tauschwert (Experimentalelektronik für Oberschülerdistinktionsgewinn) war ein Juwel mit Gebrauchswert entstanden:
You never close your eyes anymore when I kiss your lips
And there's no tenderness like before in your fingertips
You're trying hard not to show it (baby)
But baby, baby I know it
You've lost that loving feeling
Woah, that loving feeling
You've lost that loving feeling
Now it's gone, gone, gone
Woa-woah
Now there's no welcome look in your eyes when I reach for you
And girl you're starting to criticise little things that I do
It makes me just feel like crying (baby)
'Cause, baby, something beautiful's dying
Genau so (nämlich bescheuert sentimental) müssen sich Popsongs lesen. Die sparsamen elektronischen Arrangements gaben dem Stück der Righteous Brothers die lange gesuchte Form. Die Band ließ nach diesem Auftritt auch den Eisverkäufer Adrian Wright mitmachen, weil dieser über einen Führerschein verfügte.
Für die LP "Reproduction" interessierte sich trotz des Hits "You`ve lost that loving feeling" so gut wie niemand, so dass die jetzt "The Human League" genannte Band sich 1980 nach einer guten Version von Gary Glitters "Rock`n`Roll" und nach dem durchwachsenen Album "Travelogue" in zwei Teile spaltete. Ian und Martyn gründeten die British Electric Foundation, der die Welt zwei schöne Sampler und zwei ausgezeichnete Heaven 17-LP`s verdankt. Phil Oakey aber nahm sich die nächstbesten zwei Disco-Mädchen in die Band und brachte das Pop-Album "Dare!" heraus.
"Dare!" war erstmals purer Pop: banalste Liebesgeschichten und natürlich großartigste Lebensweisheiten:
Everybody needs love and adventure
Everybody needs cash to spend
Everybody needs love and affection
Everybody needs two or three friends
These are the things
These are the things
The things that dreams are made of
These are the things
These are the things
The things that dreams are made of
[...]
New York, ice cream, TV, travel, good times
Norman Wisdom, Johnny, Joey, Dee Dee, good times
Hatten die beiden vormaligen Alben immer eine Menge an experimentellen Füllern enthalten, so war hier erstmals ein reines Pop- Album zustande gekommen. "Dare!" und die Single "Don't you want me" stürmten gerechterweise die Charts, alle waren glücklich und Phil Oakey beschenkte unsere Ohren im Pop-Sommer 1982 und im Post-Pop-Sommer 1983 mit den beiden wunderbaren Stücken "Mirror Man" und "Fascination": "Hammerbeat, Kaugummi-Trash-Pop und grenzenloser Teenie-Kitsch zwischen Motown und ABBA" (Kid P. 1983).
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Umstrittener war das an Barry Whites "Love Unlimited Orchestra" angelehnte Projekt "League Unlimited Orchestra", eine Platte, die Human League-Hits in langen Versionen mit orchesterartigen Elektronikarrangements präsentierte: Während Kid P. von einer "brillianten, zeitlosen `Svengali geht in die Welt von morgen`- Synthesizer-Sirenen-Fassung" von "Don`t you want me" sprach, befand Clara Drechsler schlicht:
"Elend! Statt der von mir ausführlich gelobten Stimme entsetzt den Zuhörer an den bewußten Stellen ein blödes Pluckern und Trillern oder einfach die ersatzlose Streichung alles Schönen. Zu dem Vorschuß von Platte soll ich tanzen? Da hebt höchstens der Hund sein Bein."
1984 wird das Album Hysteria veröffentlicht, das ein Rückschritt in die Verhältnisse von "Reproduction" ist: Weniger Pop, mehr "Anspruch", aber ein großartiges herzzerreißendes Stück: "Louise". Die Sängerin Joanne erklärt den Verfall der Gruppe so:
"'Dare!' wurde sehr schnell aufgenommen. Für 'Hysteria" brauchten wir schon mal 3 Wochen bis der Drumcomputer und das Synclavier programmiert waren."
Später versuchte sich Phil Oakey noch an einem gemeinsamen Album mit Giorgio Moroder und an einer von den Swingbeat-Göttern Jimmy Jam und Terry Lewis produzierten LP ("Crash") - aber eigentlich kam nie wieder etwas vernünftiges von ihm raus.
Weiterführende Literatur: Wieder einmal und diesmal endgültig: Die Musikgeschichte muss neu geschrieben werden