Wie der Mensch korrumpiert wird

Seite 2: Der Korrumpierungseffekt

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"Aus einer unbedingten Hilfsbereitschaft war eine bedingte Hilfsbereitschaft geworden", bringt es Richard David Precht auf den Punkt. Daher nennt man dieses Phänomen in der Fachsprache: Korrumpierungseffekt.

Warneken und Tomasello, die Autoren des Experiments, betonen daher, dass die eigentliche Motivation zur Hilfe in diesem Experiment intrinsischer Natur war, also im Wesen des jeweiligen Kindes lag. Zudem widerlegen die ermittelten Ergebnisse alle Theorien, die behaupten, Kleinkinder legen nur mitmenschliches Verhalten an den Tag, um eine Belohnung zu erhalten. Des Weiteren geben Warneken und Tomasello den Rat, dass Erziehung und Sozialisation auf die natürliche Anlage des Menschen zum Altruismus aufbauen sollte.

Weitere Belege für den Korrumpierungseffekt

Bei Kindern konnte man den Korrumpierungseffekt auch im Hinblick auf das Durchhaltevermögen feststellen, das - wie eingangs dargestellt - durch Geld gestärkt werden kann. Der Entwicklungspsychologe Richard Fabes von der Arizona State University bat in seinem Experiment zwei Gruppen von Zweit- bis Fünftklässlern, eine einfache Aufgabe zu erfüllen.

Die erste Gruppe motivierte er damit, dass sie durch ihren Einsatz einen Erlös erzielen konnten, welcher schwerkranken Kindern gespendet wurde. Die zweite Gruppe wurde mit einer Belohnung für sie selbst angespornt. Einige Zeit später bat Fabes die Kinder erneut, diese Aufgabe auszuführen. Diesmal jedoch wurde keinerlei Gegenleistung in Aussicht gestellt. Während die erste Gruppe die Aufgabe weiterhin eifrig erledigte, war die zweite Gruppe deutlich demotivierter und wandte auch weniger Zeit für die Aufgabe auf.

Auch in Hinblick auf das Lernen oder die Arbeit zeigt sich, dass eine Belohnung die intrinsische Motivation der Probanden zumindest deutlich reduziert. So offenbarte ein Experiment, dass die Lust von drei- bis fünfjährigen Kinder zu malen deutlich abnahm, nachdem sie ein Bild für eine Belohnung gemalt hatten. Auch mehrere Experimente mit Studenten kamen zu dem Schluss, dass Belohnung das Interesse an einem als interessant empfundenen Puzzle deutlich absenkte.

Wie man Altruismus zerstört

Zwei Beispiele bestätigen, dass extrinsische Motivation im Allgemeinen und Geld im Besonderen schnell den natürlich vorhandenen Altruismus zerstören können. Wie eine großangelegte Studie von Richard Titmuss (London School of Economics) belegt, erwarten nicht einmal zwei Prozent der Blutspender eine Gegenleistung. Fast alle Spender erklären, schlicht anderen Menschen helfen zu wollen. Wenn allerdings die Spendenbereitschaft mit Geld honoriert wird, verringert sich diese Spendenbereitschaft sogar.

Ein weiteres Experiment kam zu einem vergleichbaren Ergebnis: Jugendlichen, die einmal pro Jahr für einen wohltätigen Zweck Spenden sammelten, sollten zusätzlich motiviert werden, indem ihnen versprochen wurde, ihren Einsatz mit einem Anteil an der erzielten Spenden zu bezahlen. Man sollte meinen, die Spendeneinnahmen würden nun deutlich steigen. Das Gegenteil jedoch war der Fall.

Extrinsisch motiviert sammelten die Jugendlichen nun lediglich zwei Drittel ihres ursprünglichen Ergebnisses. Ähnliches wurde auch in der Schweiz beobachtet. Wurde Freiwilligenarbeit finanziell belohnt, ging das Engagement der Freiwilligen zurück.

Nicht weniger als 128 Studien konnte eine Meta-Analyse aus dem Jahr 1999 aufführen, die nachweisen, dass extrinsische Anreize die intrinsische Motivation insbesondere bei Kindern verringerten.

Es kann kaum Zweifel bestehen, dass der Mensch für viele Aufgaben im Allgemeinen und für Altruismus im Besonderen von seiner Natur aus intrinsisch motiviert ist. Die Überzeugung hingegen, der Mensch helfe, arbeite oder lerne nur oder besser, wenn er hierfür belohnt wird, führt in Wirklichkeit gerade zur Zerstörung des gewünschten Verhaltens. Leicht überspitzt kann man mit dem Sachbuchautor Alfie Kohn formulieren, dass Belohnungen nur ihre eigene Nachfrage steigern.

Experimente zeigen allerdings, dass extrinsische Motivation bei Aufgaben hilfreich ist, für die Menschen schwer eine innere Motivation finden: Bullshit-Jobs.

Nebenwirkungen

Der unerschütterliche Glaube, dass Geld den Menschen am besten motiviert, reduziert nicht nur die intrinsische Motivation, sondern hat auch weitere destruktive Schattenseiten, die es im Auge zu behalten gilt.

Menschen, die in Experimenten auf Geld "geprimt" waren (also an Geld unbewusst erinnert wurden), sind egoistischer und weniger hilfsbereit. Sie sind auch im wahrsten Sinn des Wortes distanzierter gegenüber ihren Mitmenschen. So stellen Probanden ihre Stühle viel weiter auseinander als die nicht geprimten Kollegen.

Auf Geld geprimte Menschen sind auch deutlich weniger sozial und bevorzugen Einzelaktivitäten. Und nicht zuletzt sind sie weniger großzügig. Es ist geradezu augenscheinlich, dass alleine der Gedanke an Geld die Menschen trennt und aus Mitmenschen Konkurrenten macht.

Schattenseiten der harten Hand

Auch der autoritäre Erziehungsstil, der derzeit in Form des sogenanntes "harsh parenting" auf dem Vormarsch ist, erreicht genau das Gegenteil der angestrebten Wirkung. Er verursacht beim Kind chronischen Zorn, Unmut und Angst.

Strafen führen auch eher dazu, die Empathie der Kinder zu senken und deren Sozialkompetenz zu reduzieren. Prügelstrafen bewirken zudem Ungehorsam, Streitsucht und Aggression. Die Konsequenz des "Harsh parentings" ist im Übrigen paradoxerweise, dass sich die Kinder anschließend weniger für die von den Eltern ihnen gestellten Forderungen interessieren.

Autoritärer Erziehungsstil führt generell, wie Michael Tomasello betont, "zu weniger Verinnerlichung von Werten und damit zu strategischem Befolgen von Normen".

Die Psychologen Avi Assor, Guy Roth und Karen Tal führten eine Reihe von Studien durch, deren Ergebnisse nachdenklich stimmen und die hier stellvertretend angeführt werden. Hing die Zuneigung der Eltern von ihrer Hilfsbereitschaft ab, zeigte sich, dass für die Kinder später im Erwachsenenalter Hilfsbereitschaft nicht etwas war, was sie tun wollten, sondern was sie tun mussten, um ein besseres Selbstwertgefühl zu haben.

Wenn die Liebe der Eltern von den guten Noten in der Schule abhing, neigten die Kinder zur Angeberei (im Erfolgsfall) und zur Scham (im Falle eines Scheiterns). Resümierend sagten die Forscher: "Positive Anerkennung, die an Bedingungen geknüpft war, förderte die Entwicklung eines fragilen, bedingten (…) und instabilen Selbstwertgefühls."

Auch der sogenannte "Liebesentzug" hat negative Folgen. Der Psychologe Martin Hoffman (Universität New York) warnt: "Auch wenn Liebesentzug für das Kind keine körperliche oder materielle Bedrohung darstellt, kann er emotional verheerender sein als Durchsetzung von Macht, weil er die elementare Drohung des Verlassenwerdens oder der Trennung beinhaltet." Die Nebenwirkungen elterlicher Liebe, die an Bedingungen geknüpft ist, sind eklatant. Der Psychologe Alfie Kohn gibt zu bedenken: "Menschen, die das Gefühl haben, die Liebe ihrer Eltern verdienen zu müssen, fühlen sich zuinnerst wertlos."

Insbesondere weil das Kind unter diesen Voraussetzungen leicht das Gefühl haben kann: Sogar wenn es sich zur vollsten Zufriedenheit seiner Eltern verhält und sich ihrer Liebe daher erfreuen kann, dass dann nicht das Kind in seiner ganzen Person als solches geliebt wird, sondern nur die jeweilig gewünschten Charaktereigenschaften oder seine Verhaltensweisen.

Der Mittelpunkt jeder Utopie

Menschen extrinsisch zu motivieren, anstatt der intrinsischen Motivation der Menschen zu vertrauen, ist offenbar in vielerlei Hinsicht ausgesprochen bedenklich. Tatsächlich droht der konsequente Einsatz extrinsischer Motivation gerade den Menschen hervorzubringen, der tatsächlich nur noch extrinsisch motiviert werden kann, weil die wunderbare natürliche Begabung des Menschen, für Altruismus und Lernen intrinsisch motiviert zu sein, zerstört wurde.

Die falsche Gewissheit über die Natur des Menschen kann daher also gleichsam zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden, denn in der Realität von Gesellschaft und Wirtschaft herrscht unbestritten das kapitalistische Menschenbild. Mit gravierenden Nebenwirkungen.

Richard David Precht gibt daher zu Recht zu bedenken: "Die intrinsische Motivation - das selbstbestimmte Interesse - muss im Mittelpunkt jeder Utopie stehen."

Von Andreas von Westphalen ist im Westend Verlag das Buch erschienen: "Die Wiederentdeckung des Menschen. Warum Egoismus, Gier und Konkurrenz nicht unserer Natur entsprechen"

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