Wie der Prügelknabe zum Prügelknaben wird

Mediales Kasperletheater zu Joschka Fischers zweischneidiger Karriere vom Häuserkämpfer zum Oberdiplomaten

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Diplomaten gelten als höchst distinguierte Leute, die mit Worten und nicht mit Fäusten kämpfen. Der oberste Diplomat der Bundesrepublik Deutschland hat das vormals anders praktiziert. Als ruppiger, politisch noch nicht glatt geschliffener Halbstarker ließ er auch seine Fäuste sprechen, um den Klassenfeind und seinen Steigbügelhaltern das Fürchten zu lehren. Wie sagte Rudi Dutschke im berühmten Gauss-Fernsehinterview vom 03. Dezember 1967: "Wir kämpfen dafür, dass es nie dazu kommt, dass Waffen in die Hand genommen werden müssen. Aber das liegt nicht bei uns."

Das war so friedfertig bis hochexplosiv daher gesprochen, dass es vielleicht auch die RAF unterschrieben hätte, weil es eben regelmäßig an den anderen liegt, wenn man gewalttätig wird. Zwischen struktureller Gewalt, Vietnam, Ohnesorg, Marcuse bis hin zu Wackersdorf und Gorleben galt das Verhältnis der Linken zur Gewalt immer als fragil. Aber das unselige Ende der Terroristen und der grüne Aufbruch zum Verfassungsbekenntnis haben diesen Diskursdauerbrenner weitgehend erlöschen lassen. Die meisten der verlorenen Söhne und Töchter aus gutem bis bestem Hause sind wieder in die gewaltfreie Zone heimgekehrt - und einer davon ist Fischers Joschka. Zwar hat die Demokratie in ihrer hysterischen Hatz gegen linke Gewalt nicht gerade das sicherste Händchen gehabt, wenn es darum ging, Revolutiönchen und Konterrevolutiönchen zu deeskalieren. Scheinbar war es aber doch mehr als nur der tausendjährige Muff unter den Talaren und Roben, der gewaltbereite Aktivisten und gläubige Revolutionäre wieder von der Demokratie überzeugte - als einer zwar schlechten, Ho Chi Min sei's tausendfach geklagt, aber eben der relativ besten real existierenden Staatsform.

Lang ist es also her, ganze 27 Jahre, dass Fischers "Putzgruppe" ihre eigene Gewaltmoral gegen Bodenspekulanten, "Stadtteilmörder" und "Tanzbären des Kapitals" praktizierte. Jetzt dagegen repräsentiert er selbst das staatliche Gewaltmonopol und hat das im deutschen Kosovo-Einsatz auch prompt so gut gemacht, dass er gleich selbst einen linken Farbbeutel auf die Backe gekriegt hat, der ihm vielleicht als nostalgisch vertrautes Mittel politischer Argumentation erschienen sein mag.

Wie würden Sie denn heute Ihre Rolle in den 70er Jahren beurteilen? Da bewegten Sie sich im Grenzbereich von Straßenprotest und beträchtlicher Militanz.

Das war nicht nur im Grenzbereich, da gibt es nichts schönzureden. Ja, ich war militant. Den bewaffneten Kampf habe ich aber immer abgelehnt und heftig politisch bekämpft. Wir haben Häuser besetzt, und wenn die geräumt werden sollten, haben wir uns gewehrt. Wir haben Steine geworfen. Wir wurden verdroschen, aber wir haben auch kräftig hingelangt. Ich habe da nie etwas verschwiegen.

Aus dem Stern-Interview

Geschichte hat die fatale Eigenschaft, die Gegenwart nicht nur zu belehren, sondern auch zu bedrängen, anzunagen und mitunter zu verspeisen. Die Kampfhunde im APO-Keller bellen jedenfalls noch einmal laut und der oberste Diplomat Deutschlands muss zugeben, in seiner Sturm- und Drangzeit - oder sollte man besser von "Kampfzeit" reden? - auch mal kräftig hingelangt zu haben, wenn es darum ging, eine bessere Menschheitszukunft gegen das "Schweinesystem" durchzusetzen. Bettina Röhl, Tochter von Ulrike Meinhof und dem nach rechts mutierten ehemaligen "konkret"-Herausgeber Klaus Rainer Röhl, hat die grobkörnigen Fotos aus der Dunkelkammer der Demokratie ausgegraben, die nun in einer Bildershow des Stern den Außenminister als Polizistenprügler outen sollen. Und wer weiß, welche revolutionären "Blow-ups" noch in privaten Fotoarchiven lagern, um die medialen Skandalküchen der nächsten Jahre anzuheizen. Bettina Röhl scheint jedenfalls Selbstverlautbarungen nach noch mehr Material in petto zu haben. Zeig uns wenigstens noch einige revolutionär-libidinöse "Sex-ins" geläuterter Polit-Provokateure, damit wenigstens unser Voyeurismus befriedigt werde, wenn es sonst schon nichts zu sagen gibt!

Jetzt darf die Nation auch im Internet beim Spiegel abstimmen: Ist ein solcher Außenminister als Repräsentant der BRD geeignet, noch länger am Weltfrieden mitzuwirken? Selbstverständlich nicht, sagt die Opposition und die allfälligen Rücktrittsforderungen werden laut: Die Bundesrepublik könne nicht einen ehemaligen Gewalttäter zum Außenminister haben, verkündet der bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU). CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer weiß sogar noch mehr über das heimliche Innenleben des schlagkräftigen Metzgersohns Fischer. Der würde mit Jugendsünden kokettieren und habe gar "klammheimliche Freude" an gewalttätigen Auseinandersetzungen bei Castor-Transporten. Klammheimliche Freude ist seit Mescaleros Zeiten ein Straftatbestand, aber, wenn die Bekennerbriefe fehlen, selbst für schneidige Strafverfolgungsorgane schwer an der Nase ehemaliger Stadtindianer, Haschrebellen und Hausbesetzer abzulesen.

"Keine Jugendsünde", meint dagegen vorwurfsgeladen Gerhard Vogler, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft im Beamtenbund. Überrascht habe ihn das Fischer-Geständnis allerdings nicht. Die Polizei wisse seit langem, dass der Ex-Sponti "im weitesten Sinn in der RAF-Szene zu finden war" und Polizisten traktiert hat: "Wir waren damals verwundert, als ein solcher Mann in höchste Staatsämter aufsteigen konnte."

Wieso verwundert? Nach Rudi Dutschkes Diktum ist eben Revolution ein langer, komplizierter Prozess, "wo der Mensch anders werden muss". Verwundert mögen viele über Fischers rekordverdächtigen Dauerlauf durch die Institutionen gewesen sein, die damals bei den "Teach-ins" im Audimax nicht zugegen waren. Aber diese Verwunderung kann man eben positiv wie negativ wenden - und Saulus hätte nie zum Medium der Frohbotschaft werden können, wenn juvenile Missetaten zum unauslöschlichen Stigma zukünftigen Handelns werden. Der Herr hat es damals jedenfalls anders gewollt als des Außenministers christliche Kritiker heutzutage. Der stellvertretende CDU-Vorsitzender Jürgen Rüttgers befürchtet gar, dass der Ex-Gewalttäter rechten Gewalttätern nicht Vorbild zur Besinnung sein könne. Nun wäre Fischer das auch ohne seinen historischen Gewaltwurmfortsatz nicht, aber dieser undifferenzierte Gewaltdiskurs ist gar zu schön, als dass man ihn den Linken überlassen dürfte. Vermutlich gäbe in der Bundesrepublik also keine Neonazis, wenn Fischer nicht in seiner Jugend den Frankfurter Pflasterstrand so richtig durchgescheuert hätte. Wohin würden wir kommen, wenn wir auf solche medialen Weisheitsgüter verzichten würden?

Und nun? Die Rücktrittsforderung ist die übliche Dumpfkeule aus der Medienmottenkiste politischer Auseinandersetzungen und zumeist nur geeignet, das Image des politischen Widersachers für eine Medienviertelstunde einzubeulen, weil selbst die blitzsauberen Klagemänner insgeheim an ihre eigene Höchstentrüstung nicht glauben. Der geprügelte Polizist mit dem programmatischen Namen Rainer Marx hat seinem Peiniger mediengerecht bereits verziehen und wartet nun auf den "menschlich schönen Zug" einer Entschuldigung. Da behaupte einer, dass das "Räuber-und-Gendarm-Spiel" nur dem Kasperletheater vorbehalten sei, wenn wir doch Medien haben.

Der Minister kommt mit den Entschuldigungen kaum hinterher und gibt sich darüber hinaus existenzialistisch: "Ich bin heute ein anderer, als ich vor 26 Jahren war. Und dennoch bin ich derselbe. Es ist mein Leben." Derselbe und doch ein anderer - so viel Dialektik ist in den Zeiten politischer Korrektheit, die den moralisch perfekten Homunculus will und den oralen Präsidentenverkehr dafür ersatzweise erhält, wahrscheinlich verstörend.

Medienscheinheilig ist es aber allemal, in einer Gesellschaft, die härteste Bandagen als Standard politischer Auseinandersetzungen anlegt, die Lizenz zum Blackout erteilt und Spendensümpfe nach wie vor als Kavalierstümpel behandelt, Politiker als die besseren Menschen zu inszenieren. Fischer ist lediglich ein ungewöhnliches Schaustück in der Historie der Irrungen und Wirrungen, die die bundesrepublikanische Öffentlichkeit seit Benno Ohnesorg (1967) und den Folgen schreibt. Bundesrepublikanisch sozialadäquate Karrieren begannen eben beim Steinewerfer, um beim Politologiedozenten zu enden. Und wer nicht über so illustre Provenienzen verfügt, plustert eben wie Leitkulturguru Merz sein biederes Medienimage mit wilden Jugendabenteuern auf. Wir alle waren doch Easy Rider - wenigstens damals für fünf Minuten im Programmkinoparadies, bevor die letzte Metro fuhr. Wer historisch weiter ausholt, kann indes viele "Revoluzzer" und "Radikalinskis" finden, die sich brav wieder in der Demokratie als honorige Amtsträger eingefunden haben - nicht nur Herbert Wehner, selbst ein ehemaliger CSU-Abgeordneter ist darunter.

Jugendsünde oder Charakterfehler - das lässt sich beim Prügelknaben Fischer wunderbarerweise weder politisch noch psychologisch entscheiden und deshalb gehört das Skandalthema unbedingt in die hysterische Medienzentrifuge. Die dort verwaltete Moral kontrolliert die Politik in Form des Skandals, der nach Niklas Luhmann den Vorzug hat, den normalen Politikbetrieb unbemerkt passieren zu lassen. Das hätten Herbert Marcuse oder Rudi nicht besser sagen können. Skandale enden dann schließlich zum Nutzen und Frommen aller billig und gerecht Denkenden in der Opferung des Missetäters oder aber - wie vermutlich hier - im Nirwana öffentlicher Beliebigkeiten.

Das Drama ist also nicht, dass für Joschka der "Kampf" weiter geht. Es gibt gar kein Drama, sondern nur die Posse, dass Mediendemokratien politisches Palaver als diskursiven Betriebsstoff einsetzen. Dann darf da etwas geklärt werden, wo es nichts zu klären gibt, um nicht das zu klären, was zwar skandalös, aber eben nicht skandalfähig ist.