Wie die graue Arbeitswelt moralisch-rosa wird
Heutzutage braucht der Chef seine Lohnsklaven nicht mehr zu disziplinieren, denn sie kontrollieren sich selbst
Richard Branson, Chef der gigantischen Virgin-Group, ist ein verflucht wohltätiger Chef. Am 23. September 2014 verkündete er auf seinem Blog, dass seine Mitarbeiter so viel und so oft Urlaub nehmen dürfen, wie sie wollen, ganz ohne Antrag.
Das US-amerikanische Unternehmen Netflix - Vorbild für Bransons Vorhaben - hat eine vergleichbare Regelung bereits 2004 eingeführt. Bransons einzige Bedingung lautet: Die Arbeit muss erledigt sein und die Angestellten sollen mit ihrem Urlaub weder dem Unternehmen noch ihrer Karriere schaden.
Hier liegt der Hund begraben, denn zwischen den Zeilen schreibt Branson: "Trau dich doch!" Die Mitarbeiter werden sich gegenseitig zu noch mehr Arbeit anstacheln - wer Urlaub nimmt, wird zum "low performer", zum sogenannten Minderleister. So geschehen beim US-Unternehmen Evernote, das eine ähnliche Urlaubsregelung hat: Die Angestellten haben fast gar keinen Urlaub mehr genommen. Es gibt sogar einen 1.000-Dollar-Bonus für diejenigen, die wenigstens eine Woche Urlaub machen. Und nach einer aktuellen Glassdoor-Studie haben die US-Amerikaner 2013 nur die Hälfte der ihnen zustehenden Urlaubstage beansprucht.
Früher war das anders; es herrschte eine klare Disziplin. Michel Foucault zitiert eine französische Anordnung aus dem 19. Jahrhundert, die den Arbeitern in den Fabriken vorgelegt wurde: In den Pausen "sollen keine Abenteuergeschichten erzählt oder sonstige Unterhaltungen geführt werden, welche die Arbeiter von ihrer Arbeit ablenken". Wenn es heute hier und da etwas lockerer zugeht, dann auch nur deshalb, weil der militärische Drill nicht zum erwünschten Ergebnis geführt hat. Dösen darf man jetzt beim gezielten "Powernapping", einem leistungsfördernden Kurzschlaf um die zwanzig Minuten, der allein dem Zweck dient, dass die ausgebrannten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter neue Energie tanken, um weiter zu schuften. Die Methoden ändern sich, die Ziele nicht.
Erste Vorläufer gab es schon mit dem 1925 gegründeten Deutschen Institut für technische Arbeitsschulung (DINTA), auf dessen Empfehlung hin die Betriebe Kindergärten, Beratungsstellen und Sportangebote bereitstellten. Selbsterklärtes Ziel war der "Kampf um die Seele des Arbeiters". Gemäß dem Motto der DINTA - "Erziehung des Menschen für die Wirtschaft" - sollte der Betrieb zur "Heimat" werden. Da wäre man doch lieber heimatlos.
Manch einer wünscht sich vielleicht schon die alten, mürrischen Chefs zurück, die in der Old Economy mit autoritärem Gehabe das Zepter geschwungen haben. Denn in der heutigen New Economy sind solche Zigarren-Ledersessel-Choleriker passé. Der Chef ist immer öfter ein Pseudo-Kumpel, er stellt für seine Angestellten einen Kickertisch hin, kommt mit Flip-Flops ins Büro und trommelt nach Feierabend alle zum After-Work-Bierchen zusammen. Okay, hier und da mag das ja nett sein. Das Problem liegt in der häufig bloß gespielten Lockerheit: Denn hier herrscht nicht nur der altbekannte Leistungszwang, hinzu kommen nun auch noch Gruppenzwang, Fröhlichkeitszwang, Optimismuszwang. So muss man sich beispielsweise am "Pyjama-Working-Day" lächerlich machen und im Schlafanzug bei der Arbeit aufkreuzen. Wer da nicht mitmischt, ist bestenfalls ein Spielverderber und schlimmstenfalls heißer Anwärter für die nächste Kündigungswelle.
Wo der Chef als Puffer wegfällt, lastet der Leistungsdruck umso stärker auf den Schultern der Angestellten: Persönliche Kennziffern und Leistungsbarometer - oft werden sie öffentlich im Büro ausgehangen - ersetzen den früheren Befehlshaber: "Die Kontrollgesellschaften sind dabei, die Disziplinargesellschaften abzulösen", bemerkte dazu der Philosoph Gilles Deleuze. Wo früher der Chef seine Untergebenen herumkommandierte, um ihnen Disziplin einzutrichtern, kontrollieren sich die Untergebenen heute selbst.
Du bist das Problem!
Es ist das Panoptikum in Perfektion: Es braucht nur einen einzigen abstrakten Aufseher, nämlich den Arbeitszwang, um die Lohnsklaven im Zaum zu halten: "Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung", wie Foucault treffend feststellte.
Die Fratze der eisernen Machtverhältnisse hat sich lediglich eine hippe Maske aufgesetzt. Nicht nur, dass wir seit jeher drangsaliert werden - heute müssen wir auch noch fröhliche Miene zum bösen Spiel machen. Und solange Manager wie Martin Winterkorn, Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG, 8.055 Euro Stundenlohn bekommen, während gleichzeitig die Massen mit läppischen 8,50 Euro Mindestlohn abgespeist werden sollen, solange bleibt es ein böses Spiel.
Kein Wunder, dass Mobbing, Burnout und Angststörungen massiv zunehmen. Die Konkurrenz herrscht nicht mehr nur extern, also auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch intern in den Unternehmen. Die Lohnsklaven zerfleischen sich selbst - umso besser können die Unternehmen sie als Profit verwursten. Auch wenn die Lohnsklaven innerlich kündigen - was rund 24 Prozent der Beschäftigten in Deutschland bereits gemacht haben; weitere 61 Prozent machen Dienst nach Vorschrift, so eine Gallup-Studie, äußerlich bleiben sie dennoch Gefangene, unfähig, sie selbst zu sein oder "authentisch" - jenes Zauberwörtchen, dessen Quintessenz wir mit jeder werbegeschwängerten Lifestyle-Limo zu uns nehmen.
Die Botschaft der New Economy ist klar: "Hier herrscht der totale Spaß. Nicht dein Arbeitsplatz ist das Problem, nicht die kapitalistische Welt, nicht der unentwegte Leistungsdruck, sondern du bist das Problem! Du leistest zu wenig, du musst fitter und schneller werden, du musst dich optimieren." Wer diesen Irrsinn auch nur halbwegs zu kritisieren wagt, gilt eben als Minderleister.
1929 schon konnte Siegfried Kracauer in seinem Buch Die Angestellten schreiben: "Der Andrang zu den vielen Schönheitssalons entspringt auch Existenzsorgen, der Gebrauch kosmetischer Erzeugnisse ist nicht immer ein Luxus. Aus Angst, als Altware aus dem Gebrauch zurückgezogen zu werden, färben sich Damen und Herren die Haare, und Vierziger treiben Sport, um sich schlank zu erhalten." Als Kracauer einen einflussreichen Personalchef nach dessen Einstellungskriterien befragte, antwortete dieser: "Entscheidend ist die moralisch-rosa Hautfarbe, Sie wissen doch." Kracauer notierte dazu: "Ich weiß. Eine moralisch-rosa Hautfarbe - diese Begriffskombination macht mit einem Schlag den Alltag transparent, der von Schaufensterdekorationen, Angestellten und illustrierten Zeitungen ausgefüllt ist. Seine Moral soll rosa gefärbt sein, sein Rosa moralisch untermalt. So wünschen es die, denen die Auslese obliegt."
Klar, wer immer in der glücklichen Lage ist, mehr als zwei Synapsen zu haben, der durchschaut das Kasperletheater. Dennoch versetzt uns das noch lange nicht in die Lage auszubrechen, wie Theodor W. Adorno in seiner Minima Moralia erkannt hat:
Der Distanzierte bleibt so verstrickt wie der Betriebsame; vor diesem hat er nichts voraus als die Einsicht in seine Verstricktheit und das Glück der winzigen Freiheit, die im Erkennen als solchem liegt. Die eigene Distanz vom Betrieb ist ein Luxus, den einzig der Betrieb abwirft.
Es hat sich kaum etwas geändert. Die Ausbeutung der grauen Vorzeit hat nun einen moralisch-rosa Anstrich. Schöne neue Arbeitswelt.
Patrick Spät lebt als freier Journalist und Buchautor in Berlin. Zuletzt erschien von ihm: "Und, was machst du so?", Zürich: Rotpunktverlag, 2014.
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