Wie einer zum Terroristen wurde
Karl-Heinz Dellwo: Zwischen Stockholm und Stammheim
„Ich habe zwar rein physisch das Gefängnis nicht verlassen können, aber niemand hat mich dazu zwingen können, etwas zuzustimmen, von dem ich wusste, dem kann ich mich verweigern. Das kann ich eigentlich jedem empfehlen – das ist eine Haltung auch im ganz alltäglichen Leben“, sagt Karl-Heinz Dellwo nach einer Veranstaltung am Sonntag im „Max & Consorten“ in Hamburg.
Dellwo war Mitglied der sogenannten zweiten Generation der RAF. Für diese wurde Mitte der 70er Jahre die Befreiung der anderen Gefangenen quasi zum Selbstzweck, so Dellwo. Von seinem Weg des Jungen aus der Eiffel zum späteren Terroristen und jetzigen Dokumentarfilmer erzählt er im Buch „Das Projektil sind wir.“ Ursprünglich habe er es selbst schreiben wollen, doch das Projekt sei nicht rasch genug vorangekommen und so habe ihm der Hamburger „Nautilus“-Verlag die Autoren Christoph Twickel und Tina Petersen vorgeschlagen. Die haben dann in Rekordzeit aus ihren Gesprächen das Buch gemacht.
In nur drei Monaten entstand der gelungene Balance-Akt jenseits von Schuld und Sühne, abseits von Verdammnis oder im Gegenteil Verklärung. Welch ein Drahtseilakt das Projekt gewesen sein muss, klingt bei der Einführung des Gesprächs leise durch. Immerhin dürfte es Dellwo darum gegangen sein, seine Lebensgeschichte zu schreiben, die sich zu 21 Jahren im Gefängnis zugetragen hat. Ein Buch, das vor allem Bestand hat, das gelesen wird, das erklärt, Verständnis weckt, analysiert, im Regal steht, und jederzeit wieder hervorgeholt werden kann – jeder Fehler wäre für immer verewigt. Bücher sind für intellektuelle Gefangene Lebens-Mittel. Andererseits sind Bücher heutzutage eine rasch verderbliche Ware geworden. Sie werden produziert wie früher Zeitschriftenartikel. Sie müssen zu einem bestimmten Termin auf den Markt gebracht werden, in diesem Fall das RAF-Jubiläum, um sich in großer Stückzahl verkaufen zu können.
Welch eine Ironie: ausgerechnet den Gesetzen des Marktes unterworfen zu sein, gegen den die RAF sich auch gewendet hatte. Doch abseits vom Plakativen: Karl-Heinz Dellwo hat nicht „einfach“ aus dem Buch gelesen - über zwei Stunden erzählte er nüchtern, anschaulich und somit nachvollziehbar, wie man zum Terroristen gemacht wird, und wie man zum Terroristen werden kann. Anschließend stellte er sich nochmals knapp zwei Stunden den Fragen und gab somit Einblick in den „Zeitgeist“, der die RAF hat entstehen lassen. Es war gewissermaßen ein Lehrstück, ohne belehrend zu sein. Es erklärte, wie aus Gerechtigkeitssinn, erlebtem Unrecht, einem subjektiv wahrgenommenen ubiquitären Krieg und einer ganz realen Eskalation von Gewalt und Gegengewalt eine Katastrophe ihren Lauf nehmen kann, wie aus Abgrenzen von einem politischen Gegner Feinde werden, die sich immer mehr ähneln.
Nachdenklich machte eine Miniatur: Karl-Heinz Dellwo lässt Revue passieren, wie er und andere Lehrlinge ursprünglich eigentlich nur etwas mehr Geld wollten. Kopfschüttelnd erinnert er sich: „Schon verwunderlich, welche Reaktion man mit einer solch kleinen Forderung hervorrufen kann.“ So sollte es später immer wieder sein. Dellwo fuhr zur See, um der Enge zu entfliehen und lernte das Gegenteil kennen. Später wurde er zum Rädelsführer gemacht und erhielt ein Jahr Untersuchungshaft. Die Gewaltspirale, sie war in Gang gesetzt. Und wie in einer griechischen Tragödie nahm das Schicksal seinen Lauf, die Rollen der Akteure waren festgeschrieben.
Der Startschuss für das „Projektil“ war der Tod Holger Meins. So wie er sollten die anderen inhaftierten RAF-Mitglieder nicht enden. Sie sollten freigepresst werden. Am 24. April 1975 besetzten Dellwo und weitere RAF-Mitglieder die Deutsche Botschaft in Stockholm. Sie hatten extreme Gewalt erlebt, rechtfertigten so selbst die Anwendung extremer Gewalt. Sie ermordeten den Militärattaché Oberstleutnant Andreas von Mirbach und den Wirtschaftsreferenten Heinz Hillegaart.
Außerdem wurden fälschlicherweise im Gebäude angebrachte Zündungen ausgelöst. „Das konnte nicht aus Versehen passieren. Ich kann keine Erklärung für diese Zündung geben“, sagt Dellwo. Ein Umstand, der Fragen auslöst. Ebenso wie die Verwunderung, dass das Bundeskriminalamt (BKA) nicht den Code erkannt haben soll, mit dem weitere Gefangenenfreipressungen geplant wurden. Dennoch weist Dellwo kategorisch jegliche Unterwanderung durch V-Leute von sich: „In der Struktur, in der ich war, hatten V-Leute keine Chance.“
Ebenso kategorisch ist er bei Fragen nach den Tätern der Morde an Herrhausen, Karry und Rohwedder. Es könne nur die RAF gewesen sein. Zum einen habe man sich gekannt, und für die Taten sei sonst niemand in Betracht gekommen. Zum anderen präsentiert er eine verblüffende bis bizarre Erklärung: „Wären es andere Täter, würde sich bestätigen, dass „nur die Herrschenden handeln könnten“. Aber genau diese Catch 22-Situation war ja eingetreten. Entweder aufgeben oder bewaffnet weitermachen, und ebenfalls aufgeben, nämlich denen ähnlicher werden, die man bekämpfte mit der Begründung, das System gehe über Leichen. Eine Einschätzung der RAF, die der „Spiegel“ in der Ausgabe 10 dieses Jahres bestätigte: „Bislang geheime Unterlagen aus der Zeit der Schleyer-Entführung zeigen, dass Bundeskanzler Helmut Schmidt 1977 von Politikern gedrängt wurde, RAF-Häftlinge erschießen zu lassen.“
Eine Sensation, die bislang von keinem anderen Medium aufgegriffen wurde. Sich aber deckt, mit der Wahrnehmung Dellwos. Der Tod des Botschaftsbesetzers Siegfried Hausner sei Mord, schreibt er. Seine Verletzungen seien nicht schnell genug behandelt worden. Überhaupt sollte „das Bewusstsein der Gefangenen „weiß“ gewaschen werden. Ich selbst empfand ihn eher als Tiefkühlschrank, der den Widerstand einfrieren soll“, schreibt er. Er zitiert aus Protokollen des Niedersächsischen Untersuchungsausschusses, wonach in den Zellen Schallschluckfarbe verstrichen wurde, die zu Atemnot führte. Er beschreibt, wie unbekannte Substanzen in den Zellen ausgebracht wurden, die ihm die Luft nahmen.
Dellwo beschreibt das Prinzip der Vereinzelung, der Isolierung, der Konditionierung, das den Willen brechen sollte. Er schreibt, wie Mitgefangene narkotisiert wurden, um gegen ihren Willen die Fingerabdrücke zu nehmen, und er erklärt so, weshalb er kein Aussteiger ist. Gegen diese Maßnahmen sei er in den Hungerstreik getreten, habe klar gezeigt, was er nicht will. Für die Morde habe er gebüßt, 21 Jahre Haft.
Holger Meins, der Auslöser für seinen Weg in den Terrorismus, war Dokumentarfilmer. Dies ist Dellwo heute. Mit dem Schweizer UN-Sonderberichterstatter Jean Ziegler hat er aufgezeigt, dass Ungerechtigkeit nicht einfach als normal hinzunehmen ist. Menschen haben es verursacht. Menschen können es ändern. Seine Filme habe er in Zagreb auf einem Festival zeigen wollen. Einer der Sponsoren sei RTL gewesen, berichtet Dellwo. Der Sender habe sich aber zurückgezogen, weil er vertreten war. Der andere Sponsor sei geblieben, so Dellwo. Es sei die Telekom gewesen.