Wie liest man Videospiele?
Der amerikanische Sammelband "The Medium of the Videogame" wirft interessante methodische Fragen auf
Die Analyse von Videospielen vor einem geisteswissenschaftlichen Hintergrund ist eine relativ junge Beschäftigung. In Deutschland sind erst im vergangenen Jahr erstmals eine Reihe von Büchern erschienen, die versucht haben, das Thema Computerspiele jenseits von der hierzulande immer aktuellen Frage danach anzugehen, ob Computerspiele Jugendliche gewalttätig machen. Nach dreißig, vierzig oder fünfzig Jahren Computerspielen - je nach Zeitrechnung - ist es überfällig, Games nicht allein ihren Fans und deren Geschichtsschreibung zu überlassen und analytischer an das gar nicht mehr so junge Medium heranzugehen als mit Anekdoten über persönliche Arkade-Erlebnisse, Betrachtungen über die grafischen Möglichkeiten von 8-Bit-Prozessoren oder digitale Folklore über die in "Adventure" versteckte Signatur des Programmierers Warren Robinett.
Konrad Lischkas "Spielplatz Computer" und "Wir waren Space Invaders" von Mathias Mertens und Tobias O. Meißner haben sich im vergangenen Jahr aus unterschiedlichen Perspektiven mit der Geschichte und der Ästhetik von Computerspielen beschäftigt. Nach einer ersten Phase von solchen Fan- und Geschichtsbüchern und dekorativen Coffeetable-Books (wie Van Burnhams "Supercade") stellen sich nun verstärkt Fragen nach der wissenschaftlichen Methode, mit der sich die Geisteswissenschaften dem Phänomen Computerspiel nähern können.
Schon stehen einmal mehr die Germanisten in den Startlöchern, um sich - nachdem sie bereits die deutschsprachigen Medienwissenschaften zu einer Außenstelle der Literaturwissenschaften gemacht haben - der "Narration" im Computerspiel anzunehmen. Dabei ist es höchst fraglich, ob das literaturwissenschaftliche Instrumentarium für ein Medium brauchbar ist, dessen "Geschichten" erst aus der Interaktion zwischen "Werk" und Benutzer entsteht - wenn denn überhaupt etwas erzählt wird. Spiele wie "Sim City" sind aus gutem Grund in die Nähe des Gartenbaus gerückt worden, denn hier entspannt sich kein Narrativ, sondern ein - im Rahmen von gewissen Parametern - offener Prozess.
Der amerikanische Universitätsprofessor Mark J.P. Wolf will in seinem Buch "The Medium of the Video Game" dem Computerspiel mit medienwissenschaftlichen Methoden zu Leibe rücken:
"Currently, they (videogames) are best approached and analyzed using conceptual tools developed in film and television studies. The study of video games overlaps these fields in many theoretical areas, including those of the active spectator, suture, first person narrative, and spatial orientation, point of view, character identification, sound and image relations, and semiotics."
Im folgenden ignoriert er freilich die meisten dieser Kategorien, und besinnt sich auf die grundlegenden ästhetischen Konzepte Raum und Zeit, die natürlich kein Privileg der Medienwissenschaft sind. Die daraus resultierenden Überlegungen sind allerdings alles andere als ein Beweis dafür, dass die Film- und Medienwissenschaft die besten Methoden bieten, um Computerspiele zu "lesen".
Wolf isoliert zunächst eine Reihe von "räumlichen Strukturen" in Games, die er als eine Art Gegenstück zu den Einstellungen im Film sieht. Doch die Hälfte der Kategorien, die er einführt (z.B. "One screen, contained" wie etwa bei "Pong!" oder "Scrolling on one axis" wie bei "Defender") sind schlicht technischen Limitierungen bei den frühen Computerspielen geschuldet und nicht ästhetischen Entscheidungen, wie der Einsatz eines Close-Ups oder einer Totale im Kino. Beim Film, an dem Wolf sich mit seiner Kategorienbildung offensichtlich orientiert, sind zum Beispiel die Halbtotalen, in denen die meisten Filme der Gebrüder Lumière in den Gründerjahren des Kinos aufgenommen wurden, bis heute ein gängiges Stilmittel geblieben sind. Bei den Computerspielen haben sich die Entwickler alle erdenkliche Mühe gegeben, so schnell wie möglich von so beschränkten "räumlichen Strukturen" wie "No visual space, all text-based" oder "Adjacent spaces displayed one at a time" (wie in dem Arkadespiel "Berzerk") wegzukommen.
So ist ein Großteil der Kategorien, die Wolf entwickelt und einer Art Linnéschen System auflistet, unbrauchbar, wenn man die meisten heutigen Games analysieren will, die zum allergrößten Teil in pseudo-dreidimensionalen Szenarios spielen. Höchstens für Gameboy-Spiele oder die geliebten "Klassiker" aus den 80er Jahren sind Wolfs Kategorien anwendbar.
Ähnliches gilt für seine relativ kurzen Ausführungen zum Thema "Zeit im Videospiel", bei denen er ähnlich wie im vorangegangenen Kapitel häufig im Deskriptiven stecken bleibt und keine Schlüsse aus seinen Beobachtungen zieht. Auch hier sind viele Techniken den Eigenschaften des Mediums Computer geschuldet, auf dessen genuinen Charakteristika Wolf freilich nur am Rande eingeht. So interessante Aspekte des Videospiels wie zum Beispiel die Zyklen und Loops, die bei manchen Spielen große Teile des Gameplays prägen, werden nur kurz gestreift. All das ist, wie auch die folgenden Kapitel über Computerspiel-Genres und Narration, so trocken aufgeschrieben, dass es staubt. Besonders die Ausführungen über Genres sind auch von einem gewissen Hang zur Pedanterie gekennzeichnet: feinsinnig wird zwischen Management Simulation, Training Simulation, Strategy und Artifical Life unterschieden, und "Pac-Man" gehört gleichzeitig zu den Genres Maze, Collecting und Escape. (Es passt irgendwie ins Bild, dass man bei Mark Wolf per Email eine "extensive list of home video games and game systems" anfordern kann, die an Detailreichtum wahrscheinlich nicht zu übertreffen sein wird.)
Die analytischen Kategorien, die Wolf hier ins Spiel bringt, machen freilich nur dann Sinn, wenn man hinter dem Spiel einen autonomen Schöpfer oder wenigstens einen den Willen eines Autors vermutet. Diese Annahme mag für die frühen Games aus den 70er und 80er Jahren, die zum Teil ja wirklich von Einzelpersonen entwickelt wurden, ein gewisse Berechtigung haben. Aber spätestens bei Großproduktionen wie "Halo" kommen gewisse Zweifel an der Sinnhaftigkeit solcher Annahmen auf - zumal hier oft auch eine dem Regisseur vergleichbare Figur fehlt, die als Projektionsfläche für etwaige Autorentheorien dienen kann. Und egal ob "Donkey Kong" oder "Grand Theft Auto": Alle diese Spiele existieren nur in dem Augenblick, in dem sie gespielt werden, und sind nicht denkbar ohne den Beitrag des Spielers. Die Probleme, die diese Bedingung auf die "Lektüre" von Computerspiele hat, berührt Wolf nur kurz in seinem Kapitel über "Narrative in the Video Game".
Die theoretischen Überlegungen zu formalen Aspekten von Games sind umrahmt von einer Reihe von ergänzenden Texten zu anderen Aspekten des Computerspiels, die nicht von Wolf stammen. In einem in Deutschland unüblichen Verfahren hat er Kapitel zur Geschichte, zur Ästhetik und zu einer Reihe von Ausstellungen am Museum of the Moving Image in New York über Games bei anderen Autoren in Auftrag gegeben. So kommt der Leser unter anderem in den Genuss des semi-klassischen Aufsatzes "Play it again, Pacman" von dem Schriftsteller Charles Bernstein, der auf 14 Seiten mehr gewitzte Denkanregungen enthält als Wolfs gesammelte theoretischen Manöver.
Aber halt, so schlimm wie sich diese Rezension liest, ist das Buch gar nicht. "The Medium of the Computer Game" ist interessant in seinem Scheitern. Der Versuch, Computerspiele mit einen traditionellen medienwissenschaftlichen Instrumentarium untersuchen zu wollen, ist ja durchaus legitim, auch wenn "Medium of the Video Game" zeigt, dass mit diesem Vorgehen hier nicht viel zu holen ist. Das war das Experiment schon wert. Und es gibt auch Hoffnung: US-Akademiker lassen bekanntlich nichts anbrennen, wenn sie sich für ein Thema entschieden haben. Im Herbst soll ein von Wolf mitherausgegebener Reader zur "Computer Game Theory" erschienen, der die zahlreichen Lücken füllen mag, die "The Medium of the Computer Game" offengelassen hat.
Mark J.P. Wolf (Hg.): The Medium of the Video Game, Austin 2002: University of Austin Press 2001