Wie sich deutsche Beamte "unbürokratische" Visa für Erdbebenopfer vorstellen
Kosten für medizinische Behandlung und Lebensunterhalt sollen nicht übernommen werden. Bürgschaften werden scheinbar nur von Verwandten 1. und 2. Grades akzeptiert. Das Auswärtige Amt nennt all das "Humanitäre Hilfe".
Angesichts der Not in den türkischen und syrischen Erdbebengebieten wurde vor wenigen Tagen ein vereinfachtes Visaverfahren für Betroffene angekündigt, die Angehörige mit deutscher Staatsbürgerschaft oder sicherem Aufenthaltsstatus in Deutschland haben. Von "unbürokratischen Visa" war die Rede.
Die Liste der Bedingungen, die das Auswärtige Amt inzwischen veröffentlicht hat, ist allerdings lang. Mancher Nachweis dürfte obdachlose und gesundheitlich angeschlagene Erdbebenopfer, deren Ausweispapiere, Geburtsurkunden und Handys unter den Trümmern liegen, ohnehin schwer zu erbringen sein. Hinzu kommen aber zusätzliche Anforderungen – auch an die Angehörigen 1. oder 2. Grades in Deutschland.
Die Kosten für die medizinische Behandlung und den Lebensunterhalt eingereister Erdbebenopfer will der deutsche Staat nämlich nicht übernehmen – dazu sollen sich deren Familien gemäß der Paragraph 68 im Aufenthaltsgesetz verpflichten und nachweisen, dass sie das auch können. Vom Erdbeben betroffene Angehörige einkommensschwacher deutscher Staatsbürgerinnen und Staatsbürger haben demnach keine Chance.
Das vereinfachte Verfahren richtet sich an türkische Staatsangehörige, auf die Folgendes zutrifft:
• Sie sind nachvollziehbar individuell vom Erdbeben besonders betroffen (es droht Obdachlosigkeit oder Sie haben behandlungsbedürftige Verletzungen)
• Sie sind Angehörige 1. oder 2. Grades (Ehepartner/-partnerin, Eltern, Kinder, Großeltern, Enkelkinder, Geschwister) von deutschen Staatsangehörigen oder von einer Person mit einem dauerhaften deutschen Aufenthaltstitel.
• Das Familienmitglied in Deutschland hat eine Verpflichtungserklärung nach §§ 66 bis 68 Aufenthaltsgesetz abgegeben. (…)
• Sie hatten zum Zeitpunkt des Erdbebens ihren Wohnsitz in einer der betroffenen Provinzen
Aus den "Antworten auf die häufigsten Fragen zu den Erdbeben in der Türkei und Syrien" auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes
Dass dies als "humanitäre Hilfe" des Auswärtigen Amtes bezeichnet wird, ist sachlich falsch, denn die humanitäre Hilfe sollen demnach allein die Angehörigen leisten, wenn sie denn nah genug verwandt sind.
Die Frage ist auch, ob Erdbebenopfer mit dem richtigen Verwandtschaftsgrad wenigstens eigene minderjährige Kinder und den anderen Elternteil mitbringen dürfen – buchstabengetreu dürfen sie das nämlich nicht. Auch werden, wenn man die Angaben wörtlich nimmt, nur Angehörige als finanzielle Bürgen akzeptiert – besserverdienende Freunde, die den Familien helfen wollen, dürfen demnach nicht als Bürgen einspringen.
Doch wie buchgabengetreu und endgültig sind die Angaben zu verstehen? Die Bundestagsabgeordnete Clara Bünger (Die Linke) verlangt diesbezüglich von der Bundesregierung Auskunft und fordert ein wirklich unbürokratisches Verfahren. "Wer nicht zufällig zum Zeitpunkt des Erdbebens einen Aktenordner mit allen wichtigen Dokumenten bei sich hatte, als das Haus einstürzte, wird von dieser Bundesregierung im Stich gelassen", kritisierte Bünger in einem Tweet.
Sie schlägt vor, "dass die Einreise unter diesen Ausnahmebedingungen auch ohne Visum oder durch Visumserteilung bei Ankunft erfolgen können muss. Notfalls können begleitende Angehörige die Identität ihrer Verwandten glaubhaft machen, falls keine Papiere vorliegen sollten".
Zehntausende Tote und womöglich Millionen Obdachlose
Nach Angaben der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu vom heutigen Donnerstag sind allein auf türkischem Territorium mindestens 36.100 Menschen durch das Erdbeben am Montag vergangener Woche umgekommen. Einige starben erst Tage später unter den Trümmern. Mit kleinen Wundern wie der Rettung eines zwei Monate alten Babies nach 128 Stunden ist nach mehr als zehn Tagen kaum noch zu rechnen.
Mit den Getöteten auf syrischem Territorium sind dem Erdbeben nach aktuellen Berichten insgesamt mindestens 42.000 Menschenleben zum Opfer gefallen. Die Zahl der Verletzten liegt deutlich darüber, die Zahl der Obdachlosen könnte nach Schätzung der Vereinten Nationen sogar in Millionenhöhe liegen. Inzwischen wächst wegen bisher nicht geborgener Leichen und zerstörter Infrastruktur auch die Seuchengefahr.