Wikipedia: Der fragwürdige Einfluss auf Quellen und Kritik in politischen Artikeln

Blick hinter die enzyklopädische Kulisse. Warum Kritik der verstorbenen Grünen-Politikerin Antje Vollmer an einer Lobbyorganisation mehrfach abgelehnt wurde. Und wie Wikipedia in den politischen Positivismus abzurutschen droht.

"Die Einbettung in das transatlantische Bündnis", "die Verteidigung unserer Bündnispartner", China als "systemischer Rivale" und die "Erweiterung der Europäischen Union um […] die Ukraine, um die Republik Moldau und perspektivisch auch um Georgien". Olaf Scholz hat im vergangenen Dezember nicht zu viel versprochen, als er die nun veröffentlichte Nationale Sicherheitsstrategie ankündigte und dabei die USA als Vorbild nannte.

Viel deutlicher könnte das Bekenntnis zu den geopolitischen Zielen der Vereinigten Staaten kaum sein.

Mit der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie triumphiert eine Weltsicht, die älter ist als der 24. Februar 2022. Eine Weltsicht, die den deutschen medialen Diskurs um den Ukraine-Krieg seit seinem Ausbruch flächendeckend dominiert hat.

Kritiker haben diesem Diskurs das Prädikat "hegemonial" verliehen, weil er sich durch den Anspruch auf der Deutungshoheit und eine Verächtlichmachung des Dialogs ausgezeichnet habe. Ganz wie zuvor derjenige über die Corona-Krise, in der die ranghöchste EU-Beamte trotz zahlreicher Unsicherheiten und einer bis heute dürftigen Datenlage offiziellen "Behörden" und "Qualitätsmedien" ihre bedingungslose Vertrauensempfehlung auszusprechen.

Diese Waffenbruderschaft zwischen Objektivitätsgebaren und hegemonialem Diskurs zeigt sich auch in dem Verhältnis zwischen seinen prominentesten Vertretern und dem digitalen Nachfolger dessen, was einmal den Grundstein der Aufklärung gelegt haben soll. Die Rede ist vom Thinktank "Zentrum Liberale Moderne" und der "freien Enzyklopädie" Wikipedia.

Und zugleich auch von Telepolis. Aber der Reihe nach.

Alle Wikipedianer sind gleich, nur manche sind gleicher

Nicht nur den sogenannten Digital Natives dürfte bekannt sein, dass die seit 2001 bestehende Online-Enzyklopädie Wikipedia ein Gemeinschaftsprojekt ist. Und zwar das vermeintlich erfolgreichste der frühen Internet-Kultur, die sich zumeist auf anarcho-kommunistische Grundüberzeugungen berufen und eine demokratische Kommunikation unter Gleichen angestrebt hat (Peer-to-peer-Prinzip).

Die Macher der Wikipedia um US-Amerikaner Jimmy Wales sind angetreten – darin dem Prinzip der Schwarmintelligenz folgend – allen Menschen die Möglichkeit zu geben, ihr Wissen zu bestimmten Sachgebieten in einem kostenloses Nachschlagewerk zu sammeln. Eines, das den Ansprüchen genügt, die man auch an die Lexika der vordigitalen Ära gestellt hat, etwa die Brockhaus-Bände.

Rund 22 Jahre nach der Gründung muss man allerdings stark bezweifeln, ob der egalitäre Grundgedanke der Wikipedia in dieser Art tatsächlich noch verfolgt wird.

Die "Tragödie der Allmende" (Engl.: "commons", analog zum Gebrauch des Begriffs bei freier Software u.a.) zeigt sich bei der Wikipedia nicht in der klassischen Form der Verwahrlosung des Gemeinguts, sondern mehr in dem, was die Figuren der Schweine in George Orwells 1945 erschienenen Fabel Animal Farm treffend illustriert haben: der Hierarchie. Denn die Wikipedia-Community ist mitnichten eine von Peers, die gleich an Rechten das Wissen der Multitude verwalten.

So schreiben auf der deutschen Wikipedia nicht nur rund vier Millionen einfache "Benutzer", sondern auch rund 60.000 sogenannte Sichter und 180 Administratoren.

Während Benutzer zwar Artikel bearbeiten und Dateien hochladen können, haben sie nur eingeschränkte Berechtigungen, Seiten zu editieren. Sichter dagegen dürfen veränderte Artikel freischalten und als "aktive" Sichter auch Änderungen ablehnen. Auf Wikipedia heißt es dazu:

Es geht beim Sichten darum, eine vorsätzliche Schädigung der Artikel zu verhindern, beispielsweise durch die grundlose Entfernung belegter Angaben oder das Hinzufügen von Inhalten aus unseriösen Quellen.

Wikipedia (DE)

Letzteres wird in diesem Artikel noch eine entscheidende Rolle spielen. Aber zuerst zurück zum Klassensystem des Online-Lexikons.

Was Wikipedia mit der Mafia gemein hat

Hat ein Benutzer mindestens 300 Bearbeitungen vorgenommen und eine Reihe weiterer Kriterien erfüllt, die ihn als integer ausweisen sollen, wird er automatisch (aktiver) Sichter. Den Erfolg muss man sich aber nicht zwingend erarbeiten. Denn es gibt da ja noch die höhere Klasse von Wikipedianern, die Administratoren, oder kurz: Admins.

Diese dürfen nicht nur Artikel ohne Zwischenprüfung einstellen, sondern haben zugleich das Recht, Sichter zu ernennen und ihnen diesen Status auch wieder zu entziehen. Gleichzeitig können Admins die Konten der niederen "Benutzer"-Klasse sperren. Schon die einmalige Sperrung verwehrt jenen den Aufstieg zum Sichter.

Diese Struktur birgt deshalb das Risiko, dass einfache Benutzer und Sichter mögliche Vorurteile der Admins bedienen, um nicht ausgeschlossen zu werden.

Der Biologe Markus Fiedler setzt sich auf dem Blog "Geschichten aus Wikihausen" kritisch mit der Online-Enzyklopädie und ihrem Objektivitätsanspruch auseinander.

In der YouTube-Dokumentation Die dunkle Seite der Wikipedia von 2015 zitieren Fiedler und Mitproduzent Frank-Michael Speer einen Foren-Beitrag, der das oben beschriebene Patronage-Struktur mit dem Vorgehen der sizilianischen Mafia vergleicht:

Nur wer sich der gütigen Hand der absoluten Macht des Administrators unterwirft – wer also Lehns- und Gefolgsmann des Administrators wird –, kommt in den Schutz der erweiterten administrativen Rechte. […] Wer nicht Gefolgsmann eines Administrators ist, wer Kritik äußert und abweichende Ideen vertritt, ist rechtlos und zum Abschuss freigegeben […] er wird bekriegt, beleidigt und gedemütigt, und seine Beiträge stehen zur Vernichtung frei.

Die dunkle Seite der Wikipedia

Obwohl die Abkehr von einem neutralen Standpunkt gegen die Grundsätze der Wikipedia verstößt, finden sich speziell in gesellschaftspolitisch relevanten Artikeln zahlreiche Beispiele, in denen anscheinend mehr die vorgefasste Gesinnung als das ergebnisoffene Erkenntnisstreben über die Zulässigkeit von Änderungen entscheidet. Nicht selten dient dabei der politisierte, abwertende Begriff der Verschwörungstheorie als Vehikel.

Fiedler und Speer zeigten es 2015 in der Dunklen Seite der Wikipedia am Beispiel des Eintrags zum Schweizer Historiker Daniele Ganser und dem bis heute vergeblichen Bestreben einiger Benutzer, den Begriff, der sich so effektiv zum Rufmord eignet, aus dem Artikel zu entfernen.

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