Wikipedia: Der fragwürdige Einfluss auf Quellen und Kritik in politischen Artikeln

Seite 2: Wikipedia, "seriöse Quellen" und die Fakten der anderen

In ihren Beiträgen kamen Fiedler und Speer auch auf ein Phänomen zu sprechen, das bei vielen kontroversen Einträgen eine zentrale Rolle spielt. Allerdings nur hinter den Kulissen, nämlich auf den Diskussionsseiten, die sich der Durchschnittsnutzer, wenn überhaupt, nur selten ansieht. Die Rede ist von der Debatte um "zuverlässige Informationsquellen".

"Grundsätzlich", heißt es in der Kategorie "Belege" der deutschen Wikipedia, seien …

… wissenschaftliche Publikationen, insbesondere Standardwerke, begutachtete Veröffentlichungen und systematische Übersichtsarbeiten, die für das Fachgebiet des jeweiligen Lemmas relevant sind, zu bevorzugen.

Wikipedia (DE)

Einer wissenschaftlichen Quelle räumt die (deutsche) Wikipedia im Konfliktfall den Vorzug ein. Wo eine solche nicht vorhanden ist, erfüllen laut Satzung "inhaltlich zuverlässige" Quellen wie öffentlich-rechtliche Medien und Zeitungen diese Anforderungen. Explizit genannt wird tagesschau.de.

Keine Angaben macht die Wikipedia allerdings dazu, welchen anderen Medien jenes Privileg zuteilwird. Allein die Liste von Nachschlagewerken verrät, welche Medien offenbar a priori als zitierfähig eingestuft werden. Solche jenseits des sogenannten Mainstreams sucht man in betreffenden Listen allerdings vergeblich. Im Hinblick auf das Neutralitätsgebot ist das problematisch.

Denn nicht nur, dass auch "seriöse" Medien Inhalte kontrafaktisch, elliptisch oder einseitig darstellen können. Eine im obigen Sinne eng gefasste Wikipedia-Definition würde im Umkehrschluss bedeuten, dass Inhalte, die der Mainstream nicht aufgreift, per se nicht seriös sein können.

Was abweicht, wäre dann automatisch falsch. Und die Wikipedia kein progressives Gemeinschaftsprojekt, sondern eher ein Zugeständnis an zeitgenössische Formen des Positivismus.

Zudem würde man damit den "seriösen" Medien nicht nur eine unverhältnismäßige Deutungshoheit einräumen, die dem Neutralitätsgebot widerspricht, sondern auch Mechanismen ignorieren, die die Illusion eines medialen Konsenses erzeugen – etwa die Befragung der immergleichen Experten, das Abschreiben voneinander oder die Übernahme von Agenturmeldungen.

Und doch verlaufen die Diskussionen hinter den Kulissen von Wikipedia so, als ob dieses Problem nicht existiere. Das wurde zuletzt deutlich, als der Autor die Diskussionsseite des Wikipedia-Artikels über die Lobbyorganisation Zentrum Liberale Moderne (LibMod) in Augenschein nahm, welcher 2017 von dem Grünen-Ehepaar Ralf Fücks und Marieluise Beck gegründet wurde.

Ukraine, Hitler, Holocaust

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Zunächst noch einmal etwas Kontext zu LibMod: Die ehemalige Fraktionssprecherin für Osteuropapolitik Marieluise Beck und der ehemalige Vorsitzende der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung Ralf Fücks gründen das Zentrum Liberale Moderne im Jahr 2017. Dem Jahr, in dem die Gesellschaft für Deutsche Sprache den Begriff "Fake News" zum Anglizismus des Jahres wählte.

Auch Beck und Fücks wählen die Fake News, und zwar als Motivation für die Neugründung ihres ehelichen Thinktanks. In der Figur Donald Trump erkennen sie einen aufstrebenden Autoritarismus, der mit den Staatsoberhäuptern Erdogan in der Türkei und Putin in Russland seine Entsprechung findet und zunehmend erfolgreich die westlichen Demokratien unterwandere.

Das machen sie am Beispiel der inzwischen als unwesentlich eingestuften russischen Einflussnahme auf die US-Präsidentschaftswahl festmachen.

Außerdem schreibt sich das Ehepaar die "befreite Ukraine" als Gegenmodell zur autoritären Staatsform der Russischen Föderation auf die Fahne.

Damit wiederholen die LibMod-Gründer wesentliche Topoi der US-Demokraten, was in Anbetracht der engen transatlantischen Verbindungen ihrer gemeinsamen Partei, der parteinahen Stiftung und ihrer jeweiligen Personen kaum verwunderlich ist.

Abgesehen davon, dass der ehemalige US-Botschafter John Kornblum zu den Gesellschaftern der Stiftung zählt und der Demokraten-Großspender George Soros das LibMod-Projekt "Ukraine Verstehen" offensichtlich mit einer Initial-Zuwendung unterstützte, plädieren Beck und Fücks im LibMod-Gründungsmanifest für eine "Westbindung" der Bundesrepublik an die USA, als "Stützpfeiler der freiheitlich internationalen Ordnung".

Während sich der üppig mit Staatsgeldern versorgte Thinktank und namentlich dessen Autor Matthias Meisner bereits in der Corona-Krise durch ein eindimensional anmutendes Weltbild hervortaten, das "Corona-Skeptiker" mit Staatsfeinden gleichsetzte, bot das Ehepaar im Laufe der russischen Ukraine-Invasion ebenfalls betont drastische Darstellungen auf. Dazu gehörte das Bedienen des Narrativs von einem russischen Imperialismus sowie der die Evokation von Kriegsverbrechen, Völkermord sowie schließlich auch Vergleiche mit Hitler und dem Holocaust.

Der Fall Vollmer

Behalten wir all diese Informationen im Hinterkopf, so ist es durchaus nicht verwunderlich, dass die inzwischen verstorbene ehemalige Bundestagsvizepräsidentin der Grünen, Antje Vollmer, im Gespräch mit Telepolis-Chefredakteur Harald Neuber folgendermaßen zu LibMod geäußert hat:

Diese sogenannte NGO ist ein besonders eklatantes Beispiel eines hybriden politischen Thinktanks. Zwei ehemalige Spitzenpolitiker nutzen sämtliche Netzwerke der Institutionen, in denen sie lange tätig waren, und gründen dann mit Staatsgeld einen antirussischen Thinktank, den sie "Non Government Organisation" nennen und der durch keine echte Praxis im Land ausgewiesen ist. [… ] Es stimmt nicht die Regierungsferne, es stimmt nicht die Basisverankerung. Das Zentrum Liberale Moderne ist stattdessen ein Instrument eines ideologischen Lobbyismus.

Antje Vollmer im Telepolis-Interview

In der Versionsgeschichte des Wikipedia-Eintrags "Zentrum Liberale Moderne" lässt sich minutiös nachverfolgen, dass der Verweis auf das Telepolis-Interview mit Vollmer Ende 2022 unter dem Abschnitt "Kritik" mehrmals entfernt und wieder eingestellt wurde. Und das, obwohl die Relevanzkriterien von Wikipedia gebieten, Vollmer als prominenteste Kritikerin des Thinktanks anzuführen – vor der Linken-Bundestagsabgeordneten Sevim Dağdelen und dem Welt-Journalisten Frank Lübberding, der dem Zentrum im vergangenen November einen Artikel widmete.

Auf der Diskussionsseite lassen sich auch die Klagen über diesen sogenannten Edit-War nachverfolgen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob Telepolis als seriöses Medium zitiert werden darf. Dabei werden allerlei merkwürdige Argumente gegen den Vollmer-Beitrag vorgebracht.

So argumentiert Benutzer "ChickSR" etwa damit, dass im Wortlaut-Interview mit Telepolis eine "Einordnung" betreffend ihrer Rede von einem "antirussischen Thinktank" fehle. Erst eine solche erlaube es, das Statement in den Artikel aufzunehmen. Derlei Begründungen wirken nicht nur deshalb fadenscheinig, weil Telepolis in mehr als 2.000 Artikeln als Quelle genannt wird.

Der Umstand, im Falle eines direkten Zitats nach einer Einordnung zu verlangen – und zwar mutmaßlich nur deshalb, weil seine Formulierung gegenüber einer vorherrschenden Meinung Anstoß erregen könnte – scheint Zeugnis abzulegen von einer denkwürdigen Politisierung der Wikipedia, wie sie bereits bei anderen Themen beobachtet wurde.

Den Beitrag, der bis heute und auf unbestimmte Zeit im Wikipedia-Eintrag zu finden ist, verteidigt Benutzer Jürgen Oetting in der Diskussion gegen eine "unenzyklopädische Einengung des Meinungskorridors". Benutzer "Systemling" entgegnet, bei dem Begriff "Meinungskorridor" handele es sich um …

ein Schlagwort, das insbesondere in deutschen Landen derzeit sehr viele in Schrägheit abgerutschte oder dort endemische Zeitgenossen gern gebrauchen, um ihrem Framing von der Zensur einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben.

Benutzer:Systemling

Die Frage ist allerdings: Wer gibt hier wem den Rahmen vor? Und was dringt eigentlich von dieser Debatte hinter den Kulissen bis zu den einfachen Wikipedia-Lesern nach außen, die Artikel wie den von LibMod im Schnitt 140-Mal pro Tag besuchen?

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