Wikipedia an der Propagandafront gegen Historiker

Seite 2: Über "Harry Elmer Barnes": Mangel an Ausgewogenheit

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Wie gesagt: Wenn es um politische und zeitgeschichtliche Themen geht, eignet einem sehr großen Anteil dieser Artikel ein eklatanter Mangel an Ausgewogenheit. Ich möchte diese These beispielhaft am Artikel über den US-amerikanischen Historiker Harry Elmer Barnes in der deutschen Wikipedia-Fassung2 herausgreifen, der von 1889 bis 1968 gelebt hat.

Sein Hauptwerk - "The Genesis of the World War" (New York 1926) - nimmt die Ursachen des Ersten Weltkrieges unter die Lupe. Das in den frühen 1920er Jahren vorherrschende Narrativ von der alleinigen Schuld Deutschlands am Ausbruch des so genannten Großen Krieges wird von Barnes genauso in Frage gestellt wie die Rechtmäßigkeit des so genannten Versailler Vertrages.

Deutschland wurde versprochen, dass nach der einseitigen Niederlegung aller Waffen umfassende Friedensverhandlungen stattfinden würden, an denen Deutschland gleichberechtigt mit den Siegermächten die Modalitäten eines umfassenden Friedensvertrages aushandeln würde.

Vorbild wäre der Wiener Kongress von 1815 gewesen, an dem Talleyrand als Vertreter des Kriegsverlierers Frankreich gleichberechtigt teilnehmen und erhebliche Verhandlungserfolge verbuchen konnte. Allerdings war der Versailler Vertragsabschluss nach dem Ersten Weltkrieg ein so genannter "Diktatfrieden":3

Deutschland übernahm die Situation eines Strafgefangenen auf der Anklagebank, wobei der Vertreter der Anklage [i.e. die Siegermächte] vollkommene Bewegungsfreiheit genoss in der Auswahl des Zeitpunktes und der Darstellungsweise von Beweisen, während dem Angeklagten [Deutschland] Rechtsbeistand verweigert wurde oder auch nur die Gelegenheit, selber Beweise oder Zeugen aufzubieten … Es war tatsächlich eine Verhandlung, in der die Anklage mit sich selber verhandelte über das Ausmaß der Schuld des Angeklagten und nicht unter der Anforderung stand, irgendwelche Beweise liefern zu müssen.

Barnes, The Genesis of the World War, S.35

Barnes liefert stattdessen eine Reihe von Hinweisen, Indizien und Beweisen, dass durchaus seitens der späteren Siegermächte ein manifestes Interesse an der Durchführung eines Krieges bestand, um sich aus der Konkursmasse der unterliegenden Mittelmächte Deutschland, Österreich-Ungarn sowie dem Osmanischen Reich kapitale Filetstücke herauszuschneiden.

US-amerikanische Bankenkonsortien unter Leitung des Bankhauses JP Morgan nahmen bereits seit Dezember 1914 am Krieg der Triple Entente mit Großbritannien, Frankreich und Russland gegen Deutschland teil. Zum anderen belegen die von Trotzki der Weltöffentlichkeit zur Verfügung gestellten Geheimverträge zwischen Frankreich, England und Russland aus dem Jahre 1915 bis 1917 umfassende und großzügige gegenseitige Versprechungen auf Annexionen zu Ungunsten der Mittelmächte.

Wie geht nun Wikipedia mit dem Historiker Barnes um? Der deutschsprachige Wikipedia-Artikel über Barnes ist sehr knapp gehalten. Die jedem WP-Artikel vorangehende Zusammenfassung beschränkt sich auf lapidare fünf Sätze. Der Mittelteil mit dem Titel "Thesen" fasst das Lebenswerk von Barnes in ebenfalls fünf Sätzen zusammen. Es folgt ein kurzes Zitat. Schließlich in der Rubrik "Rezeption" drei kaum lesbare Bandwurm-Satzperioden. Das war‘s.

Der erste Teil enthält eine kurze Beschreibung des Curriculum Vitae (studierte an der Columbia Universität), um dann dem Leser sogleich eine massive Wertung über Barnes zuzumuten: der Historiker sei "geschichtsrevisionistisch".

"Geschichtsrevisionismus"

Schauen wir uns die Brandmarkung "Geschichtsrevisionismus" einmal genauer an. "Revidieren" kommt aus dem Lateinischen und heißt: etwas noch einmal anschauen. Kassenwarte von Vereinen brauchen eine Kassenrevision von unabhängiger Seite. Revisionen, also Überprüfungen, sind auch in Unternehmen unerlässlich.

Wir erfahren unter dem mit dem Barnes-Artikel verlinkten Begriff "Revisionismus" 4 dass in der angloamerikanischen Historikerzunft dieser Begriff durchaus wertneutral verwendet wird. Und auch Barnes nimmt ihn gerne für sich in Anspruch.

Zu Recht klärt Wikipedia auf, dass der Begriff "Geschichtsrevisionismus" lediglich in Deutschland eine negative Wertung enthält und verweist darauf, dass die SPD, besonders nach den Büchern von Eduard Bernstein, mit diesem Begriff als Schimpfwort belegt wurde.

Es wurden jedoch - und das ist sicher für den heutigen Gebrauch des Wortes als Stigmatisierung wichtiger - auch die Moskau-orientierten Anhänger der DKP in den 1970er Jahren von den Maoisten als "Revisionisten" oder einfach "Revis" beschimpft.

Betrachtet man die politische Herkunft der enttarnten Wikipedia-Redakteure, so dürfte diese analoge Übernahme des Begriffes zur Abwertung von Historikern, die den vorherrschenden Narrativen zu widersprechen wagen, als Ursprung eher anzunehmen sein.

So besteht das "Vergehen" von Barnes darin, die deutsche Verantwortung an beiden Weltkriegen "relativiert" zu haben. Die Autoren halten es aber nicht einmal für nötig, auch nur den Titel geschweige die Hauptthesen der Publikationen von Barnes zu referieren.

Stattdessen habe Barnes den Holocaust "verharmlost". Obendrein war der Barnes-Artikel ursprünglich mit einem frei erfundenen Zitat gespickt, das Wikipedia dem Autor in den Mund gelegt hatte. Das Zitat: "Deutschland ist von allen kriegsführenden Mächten die einzige gewesen, die am Ausbruch des Krieges (1914) überhaupt keine Schuld trägt", konnte nicht nachgewiesen werden, was dem WP-Redakteur "dirkm" im Jahre 2007 aufgefallen ist, der dieses Phantasieprodukt löblicherweise aus dem Text entfernt hat5

Es entsteht der Eindruck, dass auf Biegen und Brechen etwas gegen Barnes vorgebracht werden soll. Man bedient sich der beliebten Propagandatechnik der so genannten "Kontaktschuld". Im Abschnitt "Rezeption" wird deshalb auf einen gewissen David Leslie Hoggan verwiesen, der sich der Verharmlosung der deutschen Schuld am Zweiten Weltkrieg und des Holocausts schuldig gemacht habe.

Hoggan soll uns hier nicht interessieren. Anscheinend hat sich Barnes irgendwo einmal positiv auf Hoggan bezogen. Nun wird Barnes vorgeworfen, dass Hoggan, so sagen es verschiedene deutsche Quellen, sich massiver Fälschungen schuldig gemacht habe. Mag sein. Ein Historiker muss natürlich streng darauf achten, was der von ihm Belobigte handwerklich zustande gebracht hat.

Allerdings gehört es nicht zu den sauberen Präsentationen, wenn die WP-Autoren kein Wort über das Lebenswerk eines Historikers verlieren, und stattdessen eine marginale Rezension eben dieses Herrn Barnes über einen Kollegen ins Zentrum ihrer Bewertungen stellen.

Aus dem Wikipedia-Artikel über Barnes entsteht der Eindruck, dieser amerikanische Historiker sei ein isolierter Einzelgänger gewesen, dessen spinnerte Thesen man nicht einmal referieren müsse.