Wikipedia auf dem Weg zum Orwellschen Wahrheitsministerium

Über den Niedergang der Online-Enzyklopädie

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Mit Wikipedia schien ein Traum wahr geworden zu sein - das Wissen der Menschheit, zusammengetragen in einem Gemeinschaftsprojekt, kostenlos, für alle verfügbar und frei von Kommerz, im wahrsten Sinne des Wortes die beste Seite des Internet.

Obwohl nur ein Prozent der Weltbevölkerung betreffend, ist die deutsche Wikipedia dabei die zweitgrößte Abteilung - auch das schien eine besondere Erfolgsgeschichte. Und tatsächlich ist die Enzyklopädie nach wie vor unschlagbar bei Dingen wie Beethovens Geburtsdatum oder der Anzahl der Jupitermonde. Nähert man sich aber der Gegenwart in irgendeinem Artikel mit politisch-gesellschaftlichem Bezug, kommt man ins Staunen.

IM Menschenrechtsaktivistin

Wussten Sie zum Beispiel, dass Anetta Kahane, Vorstandsvorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung (die Hate Speech in Sozialen Medien identifiziert und entsprechend berät), Stasi-Mitarbeiterin war? Nun, wenn Sie es wissen, dann wahrscheinlich nicht aus Wikipedia, denn die Information wurde inzwischen auf perfide Weise marginalisiert, wie die Filmemacher Markus Fiedler und Dirk Pohlmannn in ihrem neuen Format Geschichten aus Wikihausen aufdeckten - ein Skandal, der wie manch anderer noch keine große Öffentlichkeit gefunden hat.

Fiedler hatte üble Machenschaften hinter dem beliebten Logo bereits in seinem Film Die dunkle Seite der Wikipedia präzise dokumentiert - damals ging es darum, den Schweizer Historiker Daniele Ganser zu diffamieren. Dessen Vorträge haben an deutschen Universitäten eine überwältigende Resonanz, stoßen jedoch einigen transatlantisch orientierten Zeitgenossen aber offenbar sauer auf, weswegen Ganser alles mögliche angedichtet wurde, gipfelnd in dem Totschlag-Argument, er greife "Verschwörungstheorien" auf (Eine sehenswerte Show dazu hier).

Welches Thema auch immer in den letzten Jahren weltpolitische Kontroversen ausgelöst hat - Syrien, Krim, Ukraine, Giftgasanschläge, MH17, Skripal - Wikipedia trennt sorgfältig zwischen dem westlichen Narrativ einerseits und "Verschwörungstheorien" (bäh, nicht lesen!) andererseits, sogar beim Kennedy-Mord wird belehrend angemerkt, "akademische" Historiker würden die Einzeltäter-Hypothese bevorzugen, über die man nach der Lektüre von Cold War Leaks oder JFK and the Unspeakable nur lachen kann.

Zur Beurteilung der "Relevanz" (Kriterium für Erwähnung in einem Artikel) stellt Wikipedia meist auf die "Seriösität" eines Mediums ab, was absurde Blüten treibt. Wenn junge Karrieristen ohne erkennbare Qualifikation in Spiegel Online ihre Meinung absondern, gelten diese Quellen als "seriös", wenn aber Entscheidungsträger und Intellektuelle wie Willy Wimmer oder Noam Chomsky bei RT, KenFM, den Nachdenkseiten oder Rubikon zu Wort kommen, sind diese Quellen "nicht reputabel". In einmaliger Ironie verlässt sich die revolutionäre digitale Enzyklopädie nur auf Gedrucktes. Und natürlich werden auch die Einzelpersonen mit unsachlicher Kritik überzogen, die sich eine unabhängige Meinung leisten.

Wenn B über A spricht, erfährt man etwas über … B

Die zahlreichen Beispiele des tendenziösen Abwertens einer Mainstream-missliebigen Person, nennen wir sie A, folgen oft einem leicht erkennbaren Muster. Man kann dann lesen: "B bezeichnete A als …", "C kritisierte die Argumentation von A als …", "In einer Rezension über A’s Werk schrieb D …", egal wie inkompetent und irrelevant B, C und D im Vergleich zu A sein mögen.

Die deutsche Wikipedia ist hier sogar noch schmieriger als die englische, beispielsweise findet sich im Artikel über den langjährigen CIA-Analysten und Whistleblower Ray McGovern, der regelmäßig transatlantische Kriegspropaganda seziert, der Vorwurf, seine Ansichten seien von "Verschwörungsseiten" irgendeines Rechten übernommen - wenn dann wird es wohl umgekehrt sein, aber wie dumm ist diese Bemerkung?

Findet sich überhaupt nichts Substanzielles zu monieren oder werden falsche Zitate aufgedeckt, dann flüchten sich die weiteren Kritiker in Formulierungen wie "A pflegt einen Diskurs…", "A bedient einen Jargon …", "A’s Schriften sind getränkt von …" oder gar "A’s Werk erinnert an". Ein unsägliches Meta-Geschwätz. Wikipedia hat ein Problem. Wer dort mit wachen Sinnen unterwegs ist, kann dies nicht leugnen.

Es war zu schön, um wahr zu werden

Nun kann man natürlich einwenden, Wikipedia sei nur als Spiegel der Welt konstruiert, in dem uns eben hier die Krise der Medien entgegenblickt. Abgesehen davon, dass dieses Argument jeden Missstand rechtfertigt, muss Wikipedia natürlich den Anspruch behalten, fair, neutral und ausgewogen zu sein und nichts zu unterschlagen.

Ein unverfängliches, aber instruktives Beispiel aus der Wissenschaft ist der italienische Physiker Gian Domenico Romagnosi, der als erster den Zusammenhang zwischen Elektrizität und Magnetismus entdeckte. Generationen von "Mainstream" - Historikern hatten voneinander ab- und die Entdeckung Hans Christian Ørsted zugeschrieben, bis jemand Romagnosi bei Wikipedia als alternatives Faktum präsentieren konnte.

Solche Erfolge könnte Wikipedia auch in der Politik und Zeitgeschichte erreichen, wenn denn die entsprechenden Einträge nicht als "Verschwörungstheorie" etikettiert oder gleich gelöscht würden. Warum findet sich zum Beispiel beim Artikel über die Giftgasangriffe von Gouta nicht jene Studie des MIT, die in der legendären Anstalt vom 20.10.15 erwähnt wurde und massive Zweifel an der Urheberschaft der syrischen Regierungstruppen begründet?

Wie ist es zu erklären, dass Seiten wie Propagandaschau oder die Ständige Publikumskonferenz trotz erheblicher Reichweite keinen Wikipedia-Eintrag haben? Dafür gilt ein ukrainisches Schmählied über Putin enzyklopädisch relevant, das - hier bedient sich der Autor einmal der Technik der Verklammerung - sicher auch von Faschisten gesungen wird.

Einige Wikipedia-Nutzer und auch Administratoren verstoßen dabei heftig gegen die eigenen Regeln, indem Sie z.B. Nutzer sperren, die in einer entsprechenden Diskussion die "falsche" Meinung vertreten haben - hier sind die Recherchen von Markus Fiedler ebenfalls sehr aufschlussreich. Manchmal ist ein Blick in die Versionsgeschichte oder Diskussion (wenn noch nicht archiviert) interessanter als der Artikel selbst.

Regeln und Menschen, die sie anwenden

Das Regelwerk von Wikipedia ist zwar nicht besonders übersichtlich, aber überwiegend sinnvoll und jedenfalls ursprünglich gut gemeint. Als der große Wurf, der ein stabiles Funktionieren über Jahre hinweg garantiert, hat sich das System jedoch nicht herausgestellt. An der Spitze der Hierarchie von Wikipedia stehen (anonyme) Administratoren, die weitgehende Rechte wie Löschung von Artikeln oder Sperrung von Nutzern haben (darüber gibt es sehr wenige, ebenfalls anonyme, "Bürokraten"). Derzeit gibt es noch knapp zweihundert Administratoren, in deren Händen mehr oder weniger das Schicksal von Wikipedia liegt. Wie kommen sie zu dieser Macht?

Administratoren werden gewählt, ein wesentliches Kriterium ist jedoch, wie viele Meriten sie sich vorher als Artikelbearbeiter, -korrektor oder "Sichter" erworben haben. Der Idealismus, so viel unbezahlte Arbeit in den Dienst der Allgemeinheit gestellt zu haben, verdient allen Respekt. Er qualifiziert jedoch noch nicht automatisch für eine Führungsposition in einer der einflussreichsten Organisationen in der Welt.

Abgesehen davon hat Wikipedia ein massives Nachwuchsproblem. Viele Autoren wurden vergrault durch den ruppigen Umgangston und eine rigide Löschpraxis "nicht relevanter" Themen, nun kreist eine langsam älter werdende Clique von Computerfreaks immer mehr um sich selbst. Wikipedia ist auch ein Beispiel dafür, dass Macht korrumpiert.

Die vermeintlich selbstlose Tätigkeit muss nach Jahren eben doch einen Gewinn abwerfen - und sei es durch Machtmissbrauch gegenüber Neulingen und Andersdenkenden. Anders kann man es nicht nennen, was in den Löschdiskussionen vor sich geht - das Niveau geht gegen Null, die Aggressivität durch die Decke. Oft entdeckt man, dass sachkundige Neulinge, die ihre Meinung in wohlformulierten Beiträgen eingebracht haben, inzwischen gesperrt wurden.

Homo extinguens

Jemand hat Wikipedia einmal wohlwollend als "Diktatur der Zeitreichen" bezeichnet, aber leider muss man eine unangenehme Wahrheit aussprechen: der bei Löschdiskussionen involvierte Personenkreis unterliegt seit Jahren einer Negativevolution hinsichtlich Bildung und Charakter. Wer hat denn Lust, seine Zeit für Recherche und das Abfassen von Beiträgen aufzuwenden, nur um diese nach einer Kanonade von polemischen Vorwürfen alsbald im Archiv verschwinden zu sehen?

Wer intelligent und gebildet ist, etwas zu tun hat im Leben und damit erfolgreich ist, macht das nicht oft. Übrig bleiben die anderen. Extremformen dieser Spezies werden sogar bei Wikipedia ironisch als "Löschtrolle" bezeichnet, dennoch ist hier offenbar eine Nische entstanden für Menschen, die ihren Sinn im Ausradieren von Information suchen.

Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: ich denke, dass die Mehrzahl der Administratoren überdurchschnittlich intelligente, idealistische und integre Menschen sind (wenn ich auch nur eine sehr kleine Stichprobe persönlich kenne), die sich jedoch zu wenig Gedanken machen über den allgemeinen Zustand des Projekts.

Offensichtlich gibt es aber neben diesen eine schlagkräftige Gruppe, die eine klare Agenda verfolgt: Wikipedia politisch auf Linie zu halten und alternative Sichtweisen zu unterbinden - Markus Fiedlers Dokumentarfilm nennt hier konkret eine Reihe von Nutzern, die sich besonders manipulativ verhalten.

Hinter der Kulisse ist noch nicht der Rechtsstaat

Welche Interessengruppen am Werk sind, darüber kann man natürlich nur spekulieren. Gesichert ist jedoch, dass Dutzende von Thinktanks und Tausende von Mitarbeitern von Ministerien und Geheimdiensten auf der ganzen Welt sich mit Öffentlichkeitsarbeit und PR befassen.

Anzunehmen, diese würden nicht ein bisschen mitreden wollen, was in der weltweit wichtigsten (und als objektiv geltenden) Informationsplattform geschrieben steht, wäre wohl haarsträubend naiv. Dass Unternehmen massiv Inhalte editieren, ist bekannt. Geheimdienste, die ja auch in konventionellen Medien Geschichten lancieren, stellen sich dabei wohl kaum ungeschickter an. Wer hat also bei Wikipedia das sagen?

Wikipedia beschreibt ihre eigene Struktur als "eine Art gemischter Verfassung, die neben Zügen von Demokratie und Anarchismus sowie von Oligarchie und Meritokratie auch Elemente von Technokratie, Plutokratie und Diktatur aufweist". Nett formuliert, aber wollen wir das?

Und vor allem: darf das sein in einem demokratischen Rechtsstaat? Wikipedia ist seiner Kinderstube entwachsen und zu einer Quelle geworden, die nicht nur als objektiv gilt, sondern auch über ein faktisches Monopol verfügt. Man hört, Google wolle zum Faktencheck auf Wikipedia zurückgreifen - allein die Idee, Wahrheit zentral zu definieren, ist eine der faschistoiden Wahnvorstellungen der heutigen Zeit.

Abgesehen davon spielt Wikipedia ja tatsächlich eine wichtige Rolle, der sie gerecht werden muss. Sie ist Teil des Gemeinwesens geworden, in dem intransparente Strukturen, die außerhalb des Rechtsstaates oder gegen diesen operieren, nicht geduldet werden dürfen. Persönlichkeitsrechte, Rechte von Vereinen und Unternehmen, die Freiheit von Wissenschaft und Kunst - all das verwirklicht heute Wikipedia, und immer häufiger gehen auch die Grundrechte auf Information und freie Meinungsäußerung durch dieses Nadelöhr. Sie müssen durchgesetzt werden. Damit meine ich nicht Zensurinstrumente wie das NetzDG, sondern grundlegend andere Macht- und Entscheidungsstrukturen.

Strukturelle Probleme und Ideen dazu

Die Anonymität muss zumindest ab der Ebene der Administratoren fallen. Diktaturen sind gesichtslos, aber in einem demokratischen Gemeinwesen müssen die Entscheidungsträger sichtbar sein. Dies ist auch nötig, um das verbreitete Problem der Befangenheit zu vermeiden. Persönliche Interessen, mit denen Sachdiskussionen unsichtbar infiltriert sind, vergiften Objektivität, welche im übrigen eine naive Wunschvorstellung ist. Denn jeder, der bei Wikipedia auch nur einen Edit ausführt, hat bestimmte eigene Interessen, ober er sie sich nun eingesteht oder nicht. Diese durch Klarnamen transparenter zu machen wäre allemal besser als die derzeitige Situation.

Letztlich ist die derzeitige Organisationsstruktur aber wahrscheinlich ungeeignet, sich gezielten Machtinteressen zu widersetzen. Was Wikipedia eigentlich braucht, ist eine Form der Gewaltenteilung. Diejenigen, welche allgemeine Regeln beschließen, sollten schärfer von den Autoren getrennt werden, und vor allem müsste die Anwendung der Regeln bei Streitigkeiten unabhängigen Gremien unterliegen - so wie dies im realen Leben mit der Gerichtsbarkeit der Fall ist (so sollte es zumindest sein). Es gibt zwar bei Wikipedia ein Schiedsgericht, die sehr geringe Anzahl der Anfragen spricht aber nicht für ein großes Vertrauen in diese Institution.

Qualität hat ihren Preis

Die Interpretation so unbestimmter Begriffe wie zum Beispiel "enzyklopädische Relevanz" ist eine schwierige Aufgabe, die Distanz, Abstraktionsvermögen und die Kenntnis von Vergleichsfällen erfordert - nicht umsonst haben Richter eine jahrelange Ausbildung. Wikipedia benötigt dringend transparente, qualifizierte Instanzen zur Lösung von Konflikten, deren Entscheidungen dann durchgesetzt werden.

Qualität - eine Binsenweisheit - kostet Geld. Um ein ordentliches und gerechtes Funktionieren einer "Verwaltung" und "Gerichtsbarkeit" von Wikipedia zu gewährleisten, muss man wohl vom Prinzip der absoluten Kostenfreiheit Abschied nehmen. Das bedeutet keineswegs Kommerzialisierung, die Rechtspflege kennt ja auch Gebühren, die vor dem Missbrauch der Rechtsmittel durch Querulanten abschrecken.

Warum sollte also der Einspruch gegen eine Löschung bzw. die Anrufung des Schiedsgerichts nicht mit moderaten Kosten verbunden sein, die im Falle des Obsiegens natürlich erstattet werden? Und vielleicht spräche auch nichts dagegen, das Prinzip einer angemessenen Entlohnung weiter auszubauen. Viele wären eher bereit, für das Funktionieren einer so großartigen Idee etwas Geld auszugeben als auf Dauer anonymen Verwaltern zu vertrauen, die, aus welchen Gründen auch immer, zu viel Zeit haben.

Stimmenmehrheit ist nicht des Rechtes Probe (Friedrich Schiller, Maria Stuart)

Die bei Wikipedia praktizierte Mehrheitsprinzip widerspricht dem, was man in Demokratien als unabdingbaren Schutz von Minderheiten erachtet. Auch legitime Gegenansichten (wie sie früher oft noch in Artikeln enthalten waren) können heute von einem zusammengewürfelten digitalen Mob als "irrelevant" erklärt werden, der ein paar Regelakronyme in die Diskussion wirft.

Abgesehen vom notwendigen Schutz der Minderheiten ist Wikipedia wahrscheinlich gar nicht mehr ein Abbild der Gesellschaft. Der Anteil der Menschen, die die offizielle Medienlandschaft kritisch sehen, mag vielleicht noch in der Minderheit sein, nimmt jedoch stetig zu. Wenn diese systematisch durch Unterdrückung ihrer Ansichten aus Wikipedia herausgedrängt werden, bleibt irgendwann nur mehr eine Minderheit von Gläubigen der Medienorthodoxie übrig. Spätestens dann ist das Wikipedia-Projekt ganz tot.

Kann man Wikipedia reformieren? Letztlich ist es unwahrscheinlich, dass dies den bestehenden Strukturen gelingt. Es gibt aber einen Hoffnungsschimmer: die bestehende Information ist frei zugänglich, und könnte im Prinzip von einem neu gestarteten Projekt mit vernünftigen Regeln übernommen werden. Zwar gibt es schon eine Reihe von relativ Alternativen, die sich nicht durchsetzten, aber vielleicht gelingt es irgendwann ein paar engagierten Individuen, den ursprünglichen Traum von Wikipedia zu verwirklichen.

Dr. Alexander Unzicker ist Physiker, Jurist und Sachbuchautor.