Wir Versprengten in der Kränkungsgesellschaft
Die Lage ist hochexplosiv - und es gibt kein Entrinnen. Es muss und wird knallen. So viel systemisches Gift an so vielen Schauplätzen ist nicht beherrschbar
Der Bestsellerautor Hans-Peter Martin, ehemaliger "Spiegel"-Korrespondent und unabhängiger Europaparlamentarier, veröffentlicht in dieser Woche sein neues Buch "Game Over". Telepolis bringt exklusiv erste Auszüge.
"Die Globalisierungsfalle", in der Harald Schumann und ich vor dem "Angriff auf Demokratie und Wohlstand" warnten, erwies sich leider in vielem als Prognose. Nunmehr heißt es "Game Over", für den Westen, für unser Zivilisationsmodell. Kapitalismus funktioniert auch ohne Demokratie und ohne Einhaltung liberaler Menschenrechte. Die Volksrepublik China ist mit ihrem kapitalistischen Überwachungskommunismus der wahre Sieger nach dem Kalten Krieg und die größte Gefahr für eine Zukunft in Freiheit.
Wie konnten wir nur so versagen? Mit Hyperglobalisierung und Digitalisierung, Börsenkrachs, Klimawandel und Massenmigration knicken alle vier Säulen unserer bisherigen Demokratien ein: die Legislative, die Exekutive, die Judikative und die sogenannte "vierte Gewalt", die Medien. Die liberale Demokratie ohne stabiles soziales Fundament erweist sich als Fehlkonstruktion. Unhaltbare wirtschaftliche Ungleichheit und allgegenwärtige Unsicherheit münden in nationalen Chauvinismus. Die Kriegsspirale dreht sich.
Das ist kein Zukunftsszenario. Es geschieht jetzt. Wir befinden uns mitten in einer Global-Revolution. Der Trumpismus - auch ohne Trump - wird nicht kommen, er ist da. Die Wohnungen werden nicht unbezahlbar werden, sie sind es. In vielen EU-Staaten droht nicht die Wahl rechtsnationaler Regierungen, sie sind bereits an der Macht. Aufwachen.
Hoch explosiv - und kein Entrinnen
Politisch und wirtschaftlich leben wir weltumspannend in einem dauerhaften Krisenmodus. Die Risiken ballen sich. Doch alle sind von Menschenhand gemacht und eben keine Naturkatastrophen. Vielleicht ist das die wirkliche Katastrophe. Bei der schieren Menge an gleichzeitigen Krisenherden, bei den so zahlreichen Schwierigkeiten und Dilemmas in so vielen Bereichen, kann niemand vorhersagen, wann welches Problem zu einem großen Knall führt. Doch die Lage ist hochexplosiv - und es gibt kein Entrinnen. Es muss und wird knallen. So viel systemisches Gift an so vielen Schauplätzen ist nicht beherrschbar.
Der Wunsch nach Anerkennung treibt fast alle Menschen an. Wer sie bekommt, hält die härteste aller Währungen in Händen. Doch in der neuen Weltunordnung steht nicht mehr die Belohnung für Bemühungen um sozialen Ausgleich und Frieden hoch im Kurs. Vielmehr eilt das Ressentiment von Sieg zu Sieg, mithin der "Groll", eine Abneigung, die sich aus einer zumindest unbewussten Abneigung, aus Vorurteilen und einem Unterlegenheitsgefühl speist. Familie um Familie, Partei um Partei, Land um Land werden von ihm zerfressen.
Jetzt zollen sich nimmersatte Ressentimentiker untereinander Respekt. Der Groll gegen die anderen verbindet sie. Die Eliten revoltieren gegen die Masse der Mitbürger, die Bürgermehrheit gegen "das Establishment". Applaus, Applaus. Die offene Gesellschaft erleben viel zu viele Menschen als Kränkungsgesellschaft: ungerecht, unfair, ausgrenzend. Dass ihre persönliche Vorstellung von Fairness oft sehr subjektiv ist und andere abwertet, geht unter.
Thymos ist das Thema, die zornige Gemütslage, verbunden mit dem Bedürfnis nach dem Geschätztwerden und Selbstachtung. Die Liberalen haben die Macht der Gefühle schwer unterschätzt. Denn sooft "die Märkte", womit vor allem die Finanzmärkte gemeint sind, nicht rational agieren, sooft agieren auch der Homo oeconomicus und erst recht der Homo politicus nicht nur aufgeklärt "vernünftig".
Inzwischen bespielt das "Ehrgefühl" als handlungsprägendes Element wieder die großen politischen Bühnen. Radikale Islamisten beziehen sich darauf. Sie erreichen damit heimatlose Muslime, verschaffen ihnen so eine stolze Identität und wieder ein Gefühl von Würde. Das Irre dabei: Auch bei so vielen Bürgerinnen und Bürgern, deren Familien seit Generationen in den altindustrialisierten Gesellschaften leben, nun aber unter der wachsenden Ungleichheit und sozialen Geringschätzung leiden, kommt es zu ähnlichen Prozessen, bisweilen spiegelgleich. Weil sie sich fremd im eigenen Land fühlen und gegen den politischen Islam stemmen, überantworteten sie die politische Verantwortung zu Hause bereits neuen ungarischen, polnischen, tschechischen, US-amerikanischen, österreichischen oder italienischen Nationalisten.
Auch in Holland und Deutschland machen die Neonationalisten weiter mobil. Die chauvinistischen Schwedendemokraten hatten bei den Wahlen im Jahr 2014 ihren nationalen Wähleranteil auf elf Prozent fast verdoppelt, im Sommer 2018 lagen sie in Umfragen sogar bei 23 Prozent, gleichauf mit den regierenden Sozialdemokraten. In Brasilien greifen unter wachsamer Beobachtung der Militärs die Rechtsnationalisten nach der Macht. Und wie werden sich in Europa die Separatisten entwickeln, von Katalonien bis Schottland?
Die jeweils gemeinsame "kulturelle Identität" wird getrimmt und pompös gefeiert. Ehre trifft nun auf Ehre, Stolz auf Stolz, nicht mehr nur spielerisch auf dem Fußballfeld, sondern in der Disco, im Stadtviertel. Das Match wird immer großflächiger: Aus der Südsicht der Lega des Matteo Salvini kämpfen die verlachten Italiener gegen die arroganten Deutschen, aus der Nordsicht der Lega von Alexander Gauland und seinen Nachahmern die fleißigen Deutschen gegen die verschuldeten Italiener, wenngleich derzeit noch in einer Achse verbunden gegen unerwünschte Mitspieler in ihren jeweiligen Nationalstadien. Wladimir Putin folgt längst einem Matchplan, der seine Fans zusammenschweißt: Das nach dem Kalten Krieg gedemütigte Russland stellt sich gegen die NATO-dominierte EU. Die logische Folge einer solchen Kränkungsgesellschaft ist die Kriegsgesellschaft. Schon jetzt bleiben viele bisherige Demokratien auf der Strecke.
Die Demokratiemüdigkeit der Elite
Die Demokratiemüdigkeit kennt kaum noch soziale Schranken, sie greift überall um sich. In der Breite der Bevölkerung, aber auch ganz oben. In einer Vielzahl von Hintergrundgesprächen in den USA, in Europa, Singapur und China kritisierten US-Milliardäre, europäische Banker, aber auch Führungskräfte von westlichen, an den Börsen gelisteten Industrieunternehmen und erfolgreiche Mittelständler die gegenwärtigen repräsentativen Demokratien vehement.
In den 1990er-Jahren waren die oberen 20 Prozent der Einkommensbezieher im Westen noch die größten Gegner von nicht demokratischen Regierungen, die unteren 50 Prozent hingegen eher für ein dominantes Militär zu gewinnen. Seither haben sich die Einstellungen auf den Kopf gestellt. In fast jeder Region neigen die Reichen jetzt eher zur Zustimmung zu Militärregierungen als die Armen. In den USA stieg die Zustimmung unter den Wohlhabenden von fünf auf 16, in Lateinamerika von 21 auf 33 Prozent. Und statt 19 Prozent ist seit einigen Jahren ein Drittel der US-amerikanischen Oberschicht der Meinung, dass es gut oder sehr gut wäre, einen "starken Anführer" zu haben, der sich nicht um "Wahlen oder das Parlament zu kümmern braucht". Wer Donald Trumps Erfolg also nur den gebeutelten Bewohnern des Mittleren Westens oder älteren weißen Wählern zuschreibt, unterliegt einer Fehleinschätzung.
Besonders stark ist der Trend zu undemokratischen Alternativen bei US-Bürgern, die beides sind: reich und jung. 1995 waren nur sechs Prozent der jungen Reichen für eine Machtergreifung der Armee, heute sind es 35 Prozent. Dies ist kein Sonderfall. Auch in den EU-Staaten können 17 Prozent der jungen, wohlhabenden Europäer einer Militärregierung etwas abgewinnen, drei Mal mehr als vor zwei Jahrzehnten. Illiberale Politik wird immer mehr von den Jungen, Reichen und Privilegierten unterstützt.
Jetzt, da inmitten der Globalisierung eine neue soziale Gerechtigkeit unverzichtbar wäre, streben immer mehr Profiteure nach der Abschaffung der Demokratie. Und sie treffen sich dabei mit den Ärmeren, die in ihrem Aufbegehren in autoritären Lösungen die Lösung sehen. Ein Zangengriff, dem sich die bisherigen Demokratien nicht entwinden können.
Fortschritt ohne Demokratie
Kishore Mahbubani, Politikprofessor aus Singapur, liefert der Oberschicht in West und Ost ideologisches Futter. "Dass der Westen Demokratie, Menschenrechte und Pressefreiheit gegenüber der Dritten Welt aggressiv forcierte und forciert, ist ein kolossaler Fehler." Es komme immer auf die jeweiligen Umstände an. Todesstrafe und Folter, je nachdem. Der Westen solle endlich Toleranz lernen und "andere Gesellschaften akzeptieren".
Entscheidend sei die Verbesserung der ökonomischen Lebensbedingungen. Die besten "geopolitischen Diskussionen" könne man zwar in der US-Hauptstadt Washington führen, die beste "geopolitische Leistung" liefere aber die Volksrepublik China ab. 853 Millionen Menschen wurden im Riesenreich seit den 1980er-Jahren aus extremer Armut geführt, atemberaubende Wachstumsraten erzielt. Es fand ein wirtschaftlicher Aufbruch statt wie früher nur in Mahbubanis überschaubarer Heimat Singapur.
Peter Wolf, leitender Angestellter in einem noch deutschen Weltkonzern, spricht aus, was so viele Wirtschaftstreibende denken und womit so viele so positive Erfahrungen gemacht haben: "China fasziniert, weil sich dort so viel bewegt, die Menschen haben sich an Veränderungen ohne große Diskussionen im Nachhinein gewöhnt." Entscheidungen fallen zwar intransparent, aber zügig und werden in höchstem Tempo umgesetzt. Neue Städte, Flughäfen, Bahnhöfe, Bahnstrecken, alles wird in Rekordgeschwindigkeit gebaut, ohne aufwendige Verfahren und Bürgerproteste. Der Kapitalismus boomt ohne Demokratie. Trifft gar zu: gerade deshalb?
Vermeintliche Gesetzmäßigkeiten gelten nicht mehr. Eine prosperierende Wirtschaft braucht keine Demokratie, selbst wenn sie hoch entwickelt ist. Und selbst eine größere Anzahl von gebildeten Bürgern, die es zu Wohlstand gebracht haben, erzwingt mitnichten Demokratie. Die meisten Innovationen bedürfen auch keiner umfassenden Meinungsfreiheit. Was als ein Grundgesetz der Moderne galt, erweist sich nur als ein Glaubenssatz. Die "Gleichheit" der Menschen ist ein Wert, aber keine Conditio sine qua non für wirtschaftlichen Fortschritt.
Das haben die Neonationalen - von Ungarns Viktor Orbán über Italiens Matteo Salvini bis zu den Trumpisten in den USA - begriffen. Und auch, wie sie ihren Machterhalt absichern. Trumpismus ohne Trump, eine neue deutsche Volksbewegung, welche die Politik der AfD regierungsfähig machen kann und das bevorstehende europäische EU-Endspiel verstärken die Kriegsspirale. Die Antwort muss eine neue Radikalität sein - aus der politischen Mitte heraus. Eine Wiederbesinnung auf die soziale Marktwirtschaft im Rahmen einer demokratisch-freiheitlichen Grundordnung.
Dabei müsste jeder dieser Begriffe ernst genommen werden, hin zu einem glaubwürdigen Teilen - sozial, ökonomisch, politisch und digital. Nur so ist ein "New Game" möglich.
Weitere Informationen unter hpmartin.net.
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