Wir gegen sie!

Seite 3: Individuen vs. Masse

Hand in Hand mit dem geforderten und als natürlich angesehenen Gruppendenken geht die Gefahr einher, dass die out-group, die Fremden, als eine homogene Masse austauschbarer Mitglieder mit unveränderlichem Wesen betrachtet werden, die man jedoch in der Wahrnehmung auf stereotype Merkmale reduziert, während die eigene Gruppe nur aus Individuen besteht.

Die Motive-Attribution-Asymmetry, ein jüngeres, empirisch inzwischen gut fundiertes Konzept, weist in diesem Zusammenhang noch ein weiteres fundamentales Problem des Gruppendenkens nach. Während die Motivation der in-group eher als menschlich, moralisch hochstehend und wertegeleitet wahrgenommen wird, wird gleichzeitig der out-group, dem Gegner, das Gegenteil unterstellt: eine moralisch-menschlich niedrigstehende, wenn nicht gar bösartige Motivation für sein Verhalten. Es liegt auf der Hand, dass diese kognitive Verzerrung in Wirklichkeit Ursache und Ergebnis des fehlenden Einfühlungsvermögens für die out-group ist.

Zweifel an der Richtigkeit der Gruppentheorie

Es gibt einige fundamentale Zweifel an der Theorie eines solchen Gegensatzes von in-group und out-group. Denn Gruppen sind keineswegs so eindeutig definiert, wie es oftmals propagiert wird. Der Philosoph Schmidt-Salomon gibt hierzu zu bedenken: "Identitäts-Zuschreibungen (…) sind empirisch falsch, da die Unterschiede, die innerhalb einer Gruppe (etwa unter Deutschen bzw. unter Türken), existieren, in der Regel größer sind als die Unterschiede zwischen den Gruppen (etwa zwischen Deutschen und Türken) existieren."

Besonders deutlich bestätigt sich Schmidt-Salomons Aussage bei der sogenannten "nationalen Identität". Eine wichtige Studie von nicht weniger als 65 Autoren, die in "Science" veröffentlicht wurde, belegt, dass es sich bei nationalen Zügen im Grunde genommen um eine Fiktion handelt. Empirisch scheinen hingegen das Geschlecht, die soziale Klasse und der Beruf das Verhalten der Menschen besser vorherzusagen als die Nationalität.

Ein weiteres Problem des Gegensatzes von in- und out-group: Menschen sind meistens nicht nur Teil einer einzelnen Gruppe (also beispielsweise Muslim oder Österreicher). Die unhinterfragte Grundannahme von William Graham Sumners Theorie, jeder Mensch würde jederzeit zu einer einzigen in-group gehören, ist daher in ihrer Allgemeinheit sehr fragwürdig. Tatsächlich sind Menschen oftmals zugleich in verschiedenen Arten Mitglied von Gruppen. (Wie die beiden Lebensretter beim Anschlag in Wien, die sich ausdrücklich als muslimische Österreicher bezeichnen) Der Anthropologe Lawrence Hirschfeld betont daher: "Jeder Mensch in jeder menschlichen Gesellschaft, egal wie klein, hat eine sehr große Anzahl von Zugehörigkeiten, Loyalitäten und Koalitionen, die jederzeit geltend gemacht werden können."

Zudem ist festzustellen, dass die Trennungslinien zwischen den Gruppen oft flexibler ist, als es auf den ersten Blick erscheint. Der Evolutionsbiologe E. O. Wilson betont diesen Gedanken: "Die wichtige Unterscheidung ist (...) zwischen der in-group und der out-group, aber die genaue Lage der Trennlinie wird mit Leichtigkeit vor und zurück geschoben."

Gruppen, Gruppenzugehörigkeit und Gruppeneinteilung ist daher, zieht man die Summe, nichts Statisches, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint. Aus guten Gründen resümiert daher Henri Tajfel: "Groups are processes, not things."

Menschlich, aber gefährlich

Gruppendenken und auch Gruppenbewusstsein sind also ein sehr zweischneidiges Schwert. Der Risiko- und Zufallsforscher Nassim Nicholas Taleb warnt daher zu Recht: "Das Kategorisieren ist für uns Menschen notwendig, wird aber pathologisch, wenn die Kategorie als definitiv betrachtet wird."

Anstatt also den Gegensatz zwischen mehr oder minder beliebig definierten Gruppen zu betonen und dadurch zwar scheinbar die eigene Identität zu stärken, aber auch den Konflikt mit der anderen Gruppe zu schüren, sollte es gerade im Hinblick auf die in Zukunft zu bewältigenden zahlreichen globalen Herausforderungen, vielmehr unser aller Hauptinteresse sein, Möglichkeiten zur Überwindung des Grabens zwischen den Gruppen zu finden.

Denn, wie Meinhard Miegel schreibt: "Traue nur Dir selbst und allenfalls noch Deiner Sippe. (…) Diese Sichtweise ist unter den Lebensbedingungen der Jetztzeit zur Bedrohung geworden. Nur sich selbst zu retten, ist nämlich nicht länger möglich. Entweder das Boot, auf dem wir alle sitzen, erreicht die Küste oder wir gehen gemeinsam unter: Europäer genauso wie Amerikaner, Chinesen genauso wie Inder oder Afrikaner."

Benutzte Literatur:

Bartens, Werner: Emapthie.

Bauer, Joachim: Schmerzgrenze.

Berreby, David: Us and Them.

Fukyama, Francis: Identität.

Huntington, Samuel: Kampf der Kulturen.

Klein, Stefan: Der Sinn des Gebens.

Miegel, Meinhard: Das System ist am Ende.

Das Leben geht weiter: Verantwortung in Krisenzeiten.

Paul, Jobst: Der binäre Code.

Precht, Richard David: Die Kunst kein Egoist zu sein.

Ricard, Matthieu: Allumfassende Menschenliebe.

Sapolsky, Robert: Gewalt und Mitgefühl.

Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen.

Schmitt, Carl: Glossarium.

Taleb, Nassim Nicholas: Der Schwarze Schwan.

Welzer, Harald: Selbst denken.

In einem zweiten Teil dieses Textes wird es um Lösungen der hier geschilderten Entwicklungen gehen.

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