"Wir sehen, dass der Mindestlohn nicht vor Armut schützt"
Beate Müller-Gemmeke, Grünen-Sprecherin für Arbeitnehmerrechte, über die bevorstehenden Landtagswahlen im Osten, die Diskussion über eine Erhöhung des Mindestlohns sowie die Option Grün-Rot-Rot im Bund
Frau Müller-Gemmeke, warum braucht es erst Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern im Jahr 2019, damit die Bundesparteien erklären, was Sie seit dem Mauerfall alles versäumt haben und wie Sie die Probleme in Ostdeutschland lösen wollen?
Beate Müller-Gemmeke: Es gibt nicht den Osten. Es gibt Städte, die prosperieren, aber auch Städte und ländliche Gebiete, wo es Probleme gibt. Richtig ist: Viele dachten wohl nach dem Mauerfall, es wird schon, und es sei alles nur eine Frage der Zeit. Dem war aber nicht so. Es gibt Probleme - und genau das hätten alle früher und deutlicher benennen müssen. Es ist notwendig, dass wir jetzt für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse sorgen - im Osten wie im Westen. Wir Grünen denken die Unterschiedlichkeit der Regionen immer mit.
Grünen-Parteichef Robert Habeck sagte der Freien Presse, er habe sich viele Jahre nicht für das Zusammenwachsen Deutschlands und die besonderen Probleme im Osten interessiert. Wie ist das bei Ihnen?
Beate Müller-Gemmeke: Seitdem ich im Bundestag bin, beschäftige ich mich mit der Arbeitsmarktpolitik. Fakt ist: Die Haltung vieler Konservativer und Liberaler, der Markt werde alles richten, hat sich als falsch erwiesen. Und das gilt für Ost und West.
Was wollen Sie damit sagen?
Beate Müller-Gemmeke: Prekäre Beschäftigung und Probleme auf dem Arbeitsmarkt gibt es überall. Es ist auch offenkundig, dass es sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland strukturschwache Regionen gibt, um die wir uns verstärkt kümmern müssen. Wir müssen überall dort ansetzen, wo es Probleme gibt.
Ihre Parteifreunde in Ostdeutschland hören von Bürgern häufig den Satz, sie fühlten sich von der Politik im Stich gelassen.
Beate Müller-Gemmeke: Ich weiß.
Wie gehen Sie damit um?
Beate Müller-Gemmeke: Ich nehme das sehr ernst. All jene, die solche Vorwürfe abtun, haben Grundlegendes nicht verstanden. Ich kann die Emotionen, wenn Menschen enttäuscht oder gar wütend sind, nachvollziehen. Die Welt ist unübersichtlich geworden - und zwar nicht nur durch die Globalisierung und den technischen Fortschritt: Brexit, Trump, AfD, Klimakrise, Wohnungsnot, die Angst vor Armut oder Arbeitslosigkeit, ja das alles führt zu einem Gefühl der Verunsicherung.
Würden Sie eine Partei wählen, deren Vorsitzender sagt, er habe sich lange nicht für Ihre Probleme interessiert?
Beate Müller-Gemmeke: Spricht es nicht eher für einen Politiker, wenn er sagt, er bedauere es, dass er damals nicht genau hingeschaut habe? Ich halte Robert Habecks Aussage für aufrichtig - und das kommt bei den Leuten positiv an. In dem Interview sagte er auch: "Wir brauchen Antworten, die gesamtdeutsch sind, aber in Ostdeutschland noch mal besonders Wirkung entfalten." Da hat er völlig Recht. Entscheidend ist, dass wir für Gleichwertigkeit in unserem Land sorgen.
In Thüringen, Sachsen und Brandenburg liegen die Grünen in Umfragen zwischen sieben und zwölf Prozent, die AfD zwischen 19 und 26 Prozent. Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Beate Müller-Gemmeke: Wir Grünen lagen bei den letzten Landtagswahlen in allen drei Bundesländern knapp unter bzw. über sechs Prozent. Die Umfragen heute sind viel besser. Auch die Gewinne bei der Europawahl zeigen, dass wir die richtigen Themen in den Mittelpunkt stellen und auch Antworten haben. Und wir sind der Gegenpol zur AfD. Wir stehen für Vielfalt, Demokratie und Rechtstaatlichkeit. Genau das ist die richtige Antwort auf die AfD.
Politiker aus nahezu allen Parteien sprechen davon, man müsse und wolle der Lebensleistung vieler Ostdeutscher künftig mehr Respekt entgegenbringen. Stimmen Sie da ein?
Beate Müller-Gemmeke: Alle Menschen haben Respekt verdient. Und es geht immer um die Würde der Menschen - und zwar unabhängig davon, wo sie leben.
Aber was folgt daraus?
Beate Müller-Gemmeke: Dass es nach 30 Jahren bei den Löhnen und Renten immer noch einen Unterschied zwischen Ost und West gibt, ist nicht akzeptabel. Zur Vollendung der Einheit ist es überfällig, dass beides angeglichen wird - Renten wie Löhne. Bei den Löhnen im Osten ist die geringe Tarifbindung das zentrale Problem. Bei Betrieben mit Tarifbindung sind die Löhne heute schon in Ost und West gleich.
"Der Mindestlohn muss deutlich steigen"
Wird Ostdeutschland aus Ihrer Sicht schlecht geredet?
Ich finde es zumindest nicht gut, wenn pauschal über den Osten gesprochen wird. Wer über eine ostdeutsche Region spricht, sollte stets Beispiele nennen, was genau dort gut oder eben schlecht läuft. Alles andere wird der Sache nicht gerecht.
Stimmen Sie denen zu, die sagen, der Fachkräftemangel sei das größte Problem im Osten?
Beate Müller-Gemmeke: Nein, das sehe ich so nicht. Klar, den gibt es, beispielsweise in der Pflege und im Technik- und Ingenieursbereich. Aber er ist sicherlich nicht das Hauptproblem im Osten.
Sondern?
Beate Müller-Gemmeke: Es gibt zu wenig Arbeitsplätze und auch zu wenig gute Arbeit. Außerdem fehlt es vielerorts an einer guten Infrastruktur, an Mobilitätsangeboten, bezahlbarem Wohnen und einem schnellen Breitbandausbau.
Der Niedriglohnsektor im Osten ist deutlich größer als im Westen, die Tarifbindung geringer. Wie würden die Grünen das ändern?
Beate Müller-Gemmeke: In den ostdeutschen Ländern sehen wir nicht nur einen viel zu großen Niedriglohnsektor, sondern auch ein System der prekären Beschäftigung. Da geht es dann beispielsweise um den Mindestlohn.
Wie hoch sollte er sein?
Beate Müller-Gemmeke: Der Mindestlohn ist zu niedrig. Er muss deutlich steigen, das würde sich sofort positiv auswirken, und zwar für viele Menschen. Denn der Mindestlohn ist nicht nur eine klare Unterkante, sondern er schiebt gleichzeitig die Löhne im unteren Bereich Stück für Stück nach oben.
Die SPD will den Mindestlohn von derzeit 9,19 Euro auf 12 Euro erhöhen.
Beate Müller-Gemmeke: Die Einführung des Mindestlohns war Aufgabe der Politik. Die Erhöhung des Mindestlohns ist aber Sache der Tarifpartner. Wir Grünen wollen nicht, dass die Höhe des Mindestlohns zum Spielball wechselnder politischer Mehrheiten wird. Die Anpassung sollte weiter in der dafür eingesetzten Kommission diskutiert und entschieden werden. Und damit der Mindestlohn tatsächlich steigen kann, müssen die Rahmenbedingungen verändert werden.
Die Regierung hat auf eine kleine Anfrage im Bundestag, wie hoch der Mindestlohn sein müsste, damit er Altersarmut verhindert, eine Zahl genannt: 12,63 Euro.
Beate Müller-Gemmeke: Der Mindestlohn muss deutlich steigen und deshalb wollen wir die Arbeit der Mindestlohn-Kommission stärken. Sie soll mehr Freiheit und Gestaltungsspielräume erhalten. Vor allem muss der große Fehler von SPD und Union aus dem Jahr 2014 endlich korrigiert werden.
Welchen Fehler meinen Sie?
Beate Müller-Gemmeke: Die Entscheidung, den Mindestlohn an die Tarifentwicklung zu koppeln. Das hat zur Folge, dass der Mindestlohn zwar steigt, aber im Verhältnis zu den anderen Löhnen immer gleich niedrig bleibt. Daher ist es dringend nötig, im Mindestlohngesetz etwas zu verändern.
Was genau?
Beate Müller-Gemmeke: Wir wollen die Koppelung an der Tarifentwicklung abschaffen und die Zielvorgabe "Schutz vor Armut" in das Gesetz aufnehmen. Das fehlt. Wir sehen ja, dass der Mindestlohn nicht vor Armut schützt. Und das muss korrigiert werden.
"Die Betriebe müssen merken, dass es Konsequenzen hat, wenn sie Löhne unter Mindestlohn zahlen"
Der Mindestlohn wird bekanntlich oft umgangen, im Osten häufiger als im Westen. Wie würden Sie das Problem lösen?
Beate Müller-Gemmeke: Hier ist die Finanzkontrolle Schwarzarbeit gefragt, die zurzeit allerdings nicht gut ausgestattet ist. Wir sagen schon lange: Ein Mindestlohn, der nur auf dem Papier steht, ist nicht akzeptabel. Deshalb braucht die FKS dringend mehr Personal.
Die Bundesregierung hat angekündigt, sowohl die Kontrolldichte als auch den Kontrolldruck zu verstärken. Zudem soll der Zoll mehr Personal und mehr Kompetenzen bekommen.
Beate Müller-Gemmeke: Wir fordern schon lange mehr Personal, aber genau das haben SPD und Union in den vergangenen Jahren verschlafen. Wir sind jetzt im fünften Jahr nach Einführung des Mindestlohns und die damals bewilligten 1600 zusätzlichen Stellen für die Finanzkontrolle Schwarzarbeit sind noch immer nicht alle angekommen. Mehr noch - gleichzeitig steigt die Zahl der nicht besetzten alten Stellen. Das sind aktuell 1300 - so viel wie noch nie.
Wie viele neue Stellen sind aus Ihrer Sicht nötig?
Beate Müller-Gemmeke: Das kann ich nicht abschließend beurteilen, aber klar ist: Jede Stelle, die neu geschaffen wird, wirkt. Und das ist wichtig, denn die Beschäftigten müssen darauf vertrauen können, dass sie fair bezahlt werden.
Anders gefragt: Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit soll 3500 neue Stellen bekommen, zusätzlich zu einem ohnehin geplanten Zuwachs von heute rund 7500 Mitarbeitern auf mehr als 10.000 im Jahr 2026. Halten Sie das für ausreichend?
Beate Müller-Gemmeke: Ich denke, das ist ausreichend. Viel wichtiger ist aber, dass der Bundesfinanzminister nicht immer nur mehr Personal ankündigt, sondern endlich auch liefert! Nur über Zahlen reden, das ändert nichts. Das Personal muss tatsächlich bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit ankommen. Nur dann kann die FKS Lohndumping effektiv bekämpfen.
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) kritisierte, dass der Zoll nicht an die IT-Systeme der Polizei angebunden sei. Zudem fehle kohärente Gesetzgebung für die Kriminalitätsbekämpfung durch den Zoll. Wo würden die Grünen da ansetzen?
Beate Müller-Gemmeke: Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit braucht neben ausreichend Personal auch mehr Befugnisse - und vor allem auch eine moderne Ausstattung, damit sie schnell und effizient auf Lohndumping reagieren kann. Entscheidend für uns ist, dass die Finanzkontrolle Schwarzarbeit einerseits Schwerpunktkontrollen macht und andererseits auch flächendeckend kontrolliert. Das Unterlaufen von Mindestlöhnen ist kein Kavaliersdelikt. Die Betriebe müssen merken, dass es Konsequenzen hat, wenn sie Löhne unter Mindestlohn zahlen. Nur wirksame Kontrollen entwickeln eine präventive Wirkung.
Glauben Sie, die Probleme wären damit gelöst?
Beate Müller-Gemmeke: Ein Mindestlohn allein hilft noch nicht. Wer Mindestlöhne umgehen will, der macht das bekanntlich über die Arbeitszeit. Das zeigt, wie wichtig es ist, dass Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit aufgezeichnet werden. Und: Wir brauchen unbedingt Equal Pay ab dem ersten Tag und ein Flexibilitätsbonus in der Leiharbeit. Zudem muss die sachgrundlose Befristung endlich abgeschafft werden. Auch die Tarifbindung und die Mitbestimmung müssen gestärkt werden. Wenn die Bundesregierung all das endlich anpacken würde, hätte das spürbar positive Effekte auf dem Arbeitsmarkt. Davon würden viele Menschen in vielen Regionen Deutschlands profitieren - im Osten wie im Westen.
Mit wem wollen Sie all das umsetzen?
Beate Müller-Gemmeke: Derzeit gibt es im Bundestag in der Tat keine Mehrheit für unsere Vorschläge. Natürlich ist es nicht unser Anspruch, lediglich gute Konzepte zu erarbeiten. Wir wollen sie auch umzusetzen. Deshalb müssen wir um Mehrheiten werben - und zwar zuallererst in der Gesellschaft.
Halten Sie Grün-Rot-Rot im Bund für realistisch?
Beate Müller-Gemmeke: Ich halte nichts von Farbspekulationen. Entscheidend ist, dass wir Grüne so stark wie möglich werden. Und die Europawahl hat gezeigt: Wir sind auf einem guten Weg.
Wäre Grün-Rot-Rot Ihre Wunschkonstellation?
Beate Müller-Gemmeke: Ich wünsche mir, dass Grüne so stark werden, dass wir unsere Konzepte umsetzen können. Ich bin überzeugt: Wir haben gute Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit. Entscheidend ist, dass wir für mehr Gerechtigkeit in unserem Land sorgen; dass es auf dem Arbeitsmarkt für alle gerecht zugeht. Und wir brauchen einen Klimaschutz, der auch tatsächlich seinen Namen verdient. Darum geht es.
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