"Wir sind ein Präzedenzfall, alle könnten als kriminelle Vereinigungen verfolgt werden"

Seite 2: "Spanien hat Katalonien und das Baskenland längst verloren"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Ist das Vorgehen ähnlich wie in Katalonien? Dort versucht man auch die Komitees zur Verteidigung der Republik (CDR) Gewalt anzudichten, um sie zu Terroristen zu stempeln.

Joam Péres: Tatsächlich ist der Richter Manuel García Castellón, der das Verfahren gegen die CDR eingeleitet hat, auch für einen Teil der Ermittlungen gegen uns und die "Operation Jaro" verantwortlich, wie sie von der Guardia Civil bezeichnet wird. Und er ist auch für das Verfahren gegen den Vize-Ministerpräsident und Podemos-Chef Pablo Iglesias verantwortlich.

Dabei ist Iglesias tatsächlich das Opfer einer Spionage durch die "Kloaken". Eine illegale "politische Brigade" oder "Patrioten-Polizei", in deren Zentrum ein inhaftierter Polizist steht, hatte seiner Mitarbeiterin das Handy gestohlen, um ihn angreifen zu können. Und bekannt ist auch, dass der Richter diverse Posten unter Regierungen der rechten Volkspartei (PP) eingenommen hat. Das Verfahren wird, da Iglesias Immunität genießt, nun vom Obersten Gerichtshof geprüft.

Joam Péres: Auch bei diesem Vorgang wird klar, dass hinter seinem Vorgehen politische Motive stehen, wie bei dem Vorgehen des Ermittlungsrichters gegen verschiedene Bewegungen wie im Fall der CDR oder Causa Galiza.

In welchen politischen Kontext muss man dieses Vorgehen einordnen? Welche Stärke hat die linke Unabhängigkeitsbewegung? Der Nationalistische Block (BNG) ist kürzlich zur zweitstärksten Kraft mit 24% der Stimmen in Galicien aufgestiegen.

Joam Péres: Politisch kann man den BNG nicht klar als Unabhängigkeitspartei bezeichnen, auch wenn er eine Republik Galicien fordert. Außerhalb dieser breiten Koalition, in der es historisch Strömungen in Richtung Unabhängigkeit gibt, gibt es eine Unabhängigkeitsbewegung, die heute allerdings noch minoritär ist. Wir wollen das ändern und haben uns deshalb organisiert.

Wir sehen deutlich ein klar stärker werdendes Bewusstsein für die Unabhängigkeit Galiciens. Der Prozess ist im Gange. Nach offiziellen Statistiken treten zwischen 10 bis 15% heute für die Unabhängigkeit ein.

In diesem Rahmen ordnen wir das Verfahren ein. Repression und Verbote von Organisationen, die für die Unabhängigkeit eintreten, sind seit Jahrzehnten an der Tagesordnung. Es wird eine aufsteigende Bewegung auch in Galicien kriminalisiert, um zu verhindern, dass sich dieses politische Projekt organisieren kann.

Der spanische Staat ist sich bewusst, dass er auf politischer, sozialer, kultureller, linguistischer, ökonomischer und ökologischer Ebene kein Angebot für Galicien hat. Die Zukunft unter dem Joch Spaniens bedeutet für uns: immer mehr Armut, Auswanderung, prekäre Arbeitsbedingungen, Abbau von Arbeiter- und Sprachrechten, die Zerstörung der Umwelt, etc.

Klar ist aber auch, dass Spanien Katalonien und das Baskenland längst verloren hat. Früher oder später werden sie ihre Unabhängigkeit erreichen. Hier versucht man auch mit Repression zu verhindern, dass diese Option hier reifen kann.

Bild: Causa Galiza

Hat aber nicht genau das, wie man in Katalonien sieht, dazu geführt, dass aus einer einst minoritären Position eine Mehrheit wurde?

Joam Péres: Glasklar. Wenn sie eine Lösung innerhalb ihres Autonomiemodells unmöglich machen, wenn es keine Möglichkeiten zu Veränderungen gibt und gewährte Rechte und Möglichkeiten, Kompetenzen innerhalb der Autonomie umzusetzen, zudem immer weiter eingeschränkt werden, dann bleibt nur die Möglichkeit zum Bruch. Das ist Verschlossenheit. Sie kennen keinen anderen Weg als die Repression. Es wird nicht verhandelt, das politische Problem wird negiert, geprügelt, inhaftiert...

Politik der verbrannten Erde

In welchem politischen Kontext, auf nationaler Ebene, muss man das Verfahren sehen? Es ist das Ministerium für Staatsanwaltschaft einer Regierung, die sich selbst links und progressiv bezeichnet, die diese Anschuldigungen erhebt.

Joam Péres: Das stimmt, das scheint ein Widerspruch zu sein. Theoretisch müsste diese sogenannte progressive Regierung eher dazu bereit sein, Lösungswege im Dialog für politische Probleme zu finden. Doch wir sehen, dass eine Politik der verbrannten Erde angewendet wird: Inhaftierung, Illegalisierung, Abbau von Arbeiterrechten, ökonomische Repression usw.

Man muss dazu aber auch wissen, dass die Justiz von Sektoren kontrolliert wird, die nichts Progressives haben. Die Justiz wurde nach der Franco-Diktatur nie gesäubert und sehr reaktionäre Kräfte haben dort eine Hegemonie. Dieses Problem schleifen wir bis heute hinter uns her. Und diese Sektoren spielen in dieser Krise, die das Regime von 1978 zeigt, nun ihre Karten aus.

Seit dem Ende der Diktatur kommt es periodisch zu Operationen der Guardia Civil oder der Polizei, um Unabhängigkeitsbewegungen zu schwächen und sie kriminalisieren oder verbieten zu können. Es ist eine permanente Politik des Staates, damit das Selbstbestimmungsrecht nie ausgeübt werden kann. Und im Parlament hat kürzlich die faschistische VOX-Partei offen das Verbot aller Parteien gefordert, welche die Einheit Spaniens in Frage stellen.

Allerdings sollte das ja nicht für die Staatsanwaltschaft gelten? Das ist ein Ministerium, ein Teil der Regierung und sie ernennt auch den Generalstaatsanwalt. Die Staatsanwaltschaft könnte also eine weichere Linie fahren.

Joam Péres: Das ist richtig. Es gibt eine klare und direkte Einflussnahme der Regierung auf die Repression, der wir ausgesetzt sind.

Wie nimmt die Gesellschaft in Galicien die Vorgänge auf?

Joam Péres: Die Ablehnung hier ist sehr breit. So hat sich zum Beispiel neben dem BNG und anderen Parteien auch die Gewerkschaft CIG gegen unsere Kriminalisierung ausgesprochen. Das ist die stärkste Gewerkschaft hier, stärker als die großen spanischen Gewerkschaften. Auch die CIG hat klargestellt, dass es sich um ein Polizeikonstrukt handelt und hat sich mit uns solidarisiert.

Dazu kommen Gruppen aus allen Spektren, Jugendorganisationen, Feministinnen… Am Sonntag wird es eine große Demonstration in Santiago do Compostela geben, um gegen den am Montag beginnenden Prozess zu protestieren. Gefordert werden Freisprüche für uns und ein Stopp der Repression und der Verbotsversuche. Die Ablehnung ist absolut hier, obwohl die großen Kommunikationsmedien darüber den Mantel des Schweigens legen.

Wie kann man derzeit ein solches Gerichtsverfahren in einer Stadt wie Madrid durchführen, die abgeriegelt ist und sich im Covid-Alarmzustand befindet? Es darf eigentlich niemand nach Madrid oder aus der Hauptstadt hinaus.

Joam Péres: Abgesehen von der Farce, der wir beiwohnen müssen, sind die gesundheitlichen Risiken hoch. Unsere Verteidiger haben zum Beispiel angeführt, dass Angeklagte zu Risikogruppen gehören. Wir warten noch auf eine Entscheidung. Aber es sagt schon viel aus, dass es das Gericht im Fall eines Angeklagten, der Herzprobleme hat, abgelehnt hat, dem Verfahren per Videokonferenz beizuwohnen.

Neben dem Polizeikonstrukt setzen wir auch noch 12 Galicier dem Risiko aus, sich mit Coronavirus zu infizieren. Dazu kommen natürlich auch noch die Anwälte, Zeugen und Gutachter. Insgesamt sollen es etwa 100 Menschen sein.

Ist Unterstützung von Freunden und Familien möglich, denn die eigentlich nicht in die Hauptstadt reisen?

Joam Péres: Es wurde eine Kundgebung am Montag um 9 Uhr eine Versammlung am Nationaler Gerichtshof angekündigt. Wir wissen aber nicht, ob sie stattfinden kann. Ob jemand mit uns aus Galicien nach Madrid reisen kann, wissen wir auch nicht.