Wir stehen für Bewegung

Die Frage: "Wofür steht ihr eigentlich?" ist falsch gestellt, wenn alles in Bewegung ist

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Betritt irgendwo eine neue politische Bewegung die Bühne so taucht schnell die Frage auf "Was die eigentlich wollen". Was sind ihre Ziele? Was für eine Gesellschaft wollen sie errichten? Wie soll die funktionieren? Solche Fragen werden in den letzten Monaten wieder häufiger gestellt, mal geht es um die Piraten, mal um arabische Revolutionäre und mal um die Occupy-Bewegungen. Aber sind solche Fragen überhaupt sinnvoll?

Protestbewegungen, die an der bestehenden Gesellschaft etwas ändern wollen, ob sie einen Diktator stürzen, die Macht der Banken brechen oder die Überwachung des Internet verhindern wollen, entstehen immer aus der Unzufriedenheit mit einer bestehenden Situation heraus. Einig sind sich die Aktivisten darin, dass es nicht so weiter gehen kann wie bisher, dass sich das gewohnte System überlebt hat, dass alte Regeln über den Haufen geworfen werden müssen. Aus der Ablehnung des Bestehenden erwächst das revolutionäre Potential. Die Ziele der Bewegung können eigentlich nur in der Abgrenzung zu diesem bestehenden oder in der Differenz zu dem, was verändert werden muss, definiert werden.

Mehr Demokratie, weniger Bevormundung

Oft müssen sich solche Bewegungen darauf beschränken zu sagen, wovon sie mehr und wovon sie weniger wollen als die Gegenwart den Menschen bietet. Meist beziehen sich die Forderungen auch auf universale, abstrakte Begriffe: Demokratie, Freiheit, Menschenrechte. Programme, die auf diese Weise formuliert werden, geben sozusagen die Richtung vor, in welche die Gesellschaft verändert werden soll. Das ist das notwendige Mindestmaß, über das sich die Aktivisten verständigen können und müssen. Solche Programme haben auch den Vorteil, dass sie gut auf Plakate und Flugblätter passen.

Worüber man sich einig sein muss, ist die Richtung, in die man aufbrechen will. Welches Ziel jeder Einzelne am Horizont zu erkennen glaubt, mag unterschiedlich sein. Das Reden über die Zukunft, die Visionen von der besseren Welt, sind zwar wichtig dafür, dass man für den Alltagskampf genug Energie aufbringt, aber sie bleiben allgemein und abstrakt – und das ist auch gut so.

Würde jeder allzu konkret sagen, wie er sich die Alternativen zum Bestehenden genau vorstellt, dann würden sich schnell unüberbrückbare Differenzen zeigen, und die Diskussionen über die ferne Zukunft würden die Kraft für die tägliche Aktion rauben. Besser ist, sich auf das zu konzentrieren, worin man sich einig weiß, und das sind die Ablehnung des Bestehenden und die Ziele der gerade Regierenden.

Neues Forum und Grüne Partei

Jede Bewegung, die angetreten ist, die bestehenden Verhältnisse zu verändern, hat diese Erfahrung gemacht.

Am Ende der DDR bündelten die Bürgerrechtler ihre Aktivitäten im "Neuen Forum". Sie organisierten Demonstrationen, zählten bei den "Wahlen" die Gegenstimmen um die Wahlfälschung der Regierung nachzuweisen, druckten und verteilten Flugblätter. Als die DDR sich von der Weltbühne verabschiedete, zerstreuten sich die Revolutionäre in verschiedene Richtungen: zwar gingen die meisten zu den Grünen, aber viele wechselten auch zur SPD, mancher schloss sich auch der CDU oder der FDP an – ganz zu schweigen von denen, die frustriert der Politik ganz den Rücken kehrten.

Ähnliches hat die Grüne Bewegung in der Bundesrepublik erlebt, auch wenn die Grüne Partei selbst große Energie dafür verausgabt hat, die verschiedenen Richtungen immer wieder zusammen zu halten, ist mancher ehemalige Grüne inzwischen bei der SPD oder bei der Linken gelandet oder hat sich ganz aus der Politik verabschiedet. So bewahrheitet sich immer wieder, was Hans-Eckhard Wenzel, ein Liedermacher in der DDR, vor 25 Jahren schrieb:

Nur im Vergangnen waren wir uns einig.
Was kommen würde, wird uns entzwein.

Wer sich gegen Bestehendes auflehnt, der braucht viel Energie, und die Energie derer, die zur Auflehnung bereit sind, muss gebündelt werden. In so einer Situation wäre es völlig falsch, zu lange darüber zu diskutieren, ob auch die ganz langfristigen Ziele aller Beteiligten, ihre Vorstellungen über die Zukunft nach der Veränderung der bestehenden Strukturen, bis ins Detail übereinstimmen. Natürlich ist es gut, wenn Einigkeit über die nächsten Ziele besteht – damit sich nicht schon am Tage nach dem ersten Erfolg der Katzenjammer einstellt.

Letztlich ist es immer die Entscheidung des einzelnen Teilnehmers an so einer Bewegung, wie viel er über die Beweggründe und Zukunftsvorstellungen der anderen wirklich wissen will. Niemand, der mehr Demokratie will, wird sich mit jemandem zusammentun wollen, der eigentlich deshalb die Parteiendemokratie los werden will um König einer absoluten Monarchie oder Diktator zu werden. Ebenso wichtig ist es wohl, nach jedem erreichten Teilziel herauszufinden, ob die anderen immer noch in die gleiche Richtung laufen wie man selbst.

Die Sicherheit des Augenblicks

Beispiel Piratenpartei: Über das Ziel, durch Teilnahme an den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus Aufmerksamkeit für das Anliegen der Piraten zu gewinnen, war man sich sicher schnell einig. Einmal ins Parlament eingezogen, kann sich die Sache durchaus verändern: die einen sind der Ansicht, nun müsse der "Marsch durch die Institutionen" angetreten werden, andere meinen, im Parlament käme es vor allem darauf an, die Fehler des Systems offensichtlich zu machen, die dritten sehen gar keinen besonderen Sinn in der parlamentarischen Arbeit.

In so einem Moment muss man sich neu sortieren und herausfinden, ob die verschiedenen Strömungen noch so weit zusammenpassen, dass sie sich als Teile der gleichen Bewegung verstehen können. Die Übereinstimmung über die Schritte, die man gemeinsam gehen will, erreicht eine wirklich dynamische Partei immer nur für den nächsten Augenblick.

Ist es nicht verantwortungslos, so zu reden? Müsste man nicht, bevor man die Sicherheit der bestehenden Strukturen erschüttert, genau überlegen und sagen, was man an deren Stelle setzen will? Müsste man nicht sogar genau beschreiben, wie man sich den Weg aus der jetzigen Welt in die Zukunft vorstellt, und plausibel machen, dass dabei auch nichts schief geht? Ist es nicht besser, alles so zu lassen wie es ist, wenn man nicht sicher sein kann dass das, was da kommen soll, auch wirklich funktionieren wird?

Wer so redet, der wird – ganz in der Tradition des Dänenprinzen Hamlet – nicht dazu kommen, überhaupt etwas zu tun, er wird immer zögern und zaudern. So merkwürdig das klingen mag, zu viel Nachdenken ist immer nur im Interesse der aktuellen Machthaber und derer, die den Staus Quo bewahren wollen. Deshalb sind die auch ganz froh, wenn – z.B. mit Bezug auf die Piraten – heute möglichst oft gefragt wird, "wofür die denn eigentlich stehen". Das schafft Verunsicherung, und wer verunsichert ist, der unterstützt nicht diejenigen, die etwas verändern wollen, sondern die, die versprechen, dass alles beim Alten bleibt.

Man braucht sich doch nichts vorzumachen: Niemand weiß wirklich was passiert, wenn z.B. mit Hilfe von Liquid Democracy mehr Bürger an Entscheidungen direkt beteiligt sind und die Prinzipien des Parteienstaates und der bürokratischen Verfahren Stück für Stück ersetzt werden. Alles hängt doch davon ab, wie sich die Menschen dann verhalten werden, was sie tun werden, welche Möglichkeiten sie ergreifen und welche Ziele sie verfolgen werden. All das ist völlig ungewiss.

Das Einzige, was man über diese Zukunft sagen kann, ist dass es eigentlich nicht schlimmer sein kann als die heutige Situation der Politik- und Parteienverdrossenheit. Besser ist es, die Veränderungen einfach anzugehen und in jeder Situation zu schauen, wer noch in die gleiche Richtung läuft wie man selbst. Auf Überraschungen wird man gefasst sein müssen, alte Freunde werden fremd und mancher, den man zuvor nicht mochte, wird plötzlich vertraut werden.

Die Frage: "Wofür steht ihr eigentlich?" ist falsch gestellt, wenn alles in Bewegung ist. "Wir stehen für Veränderung, für Bewegung", klingt paradox, ist aber die einzige angemessene Antwort.