"Wir wollen den Sturz des Regimes - nichts weniger"
Interview mit der syrischen Facebook-Aktivistin "Laila Shams"
Unter den syrischen Demonstranten sind derzeit kaum Frauen zu sehen. Die Gefahr, die von den brutal zuschlagenden Regimeschergen ausgeht, ist zu groß. Im Cyberspace hingegen ziehen Syriens Frauen entschieden die Fäden für den Freiheitskampf. Etwa Laila Shams (Name von der Redaktion geändert). Im Gespräch mit Telepolis spricht die Oppositionelle über Syriens Protest, dessen Hintergrund und die Kluft zwischen den Generationen.
Seit anderthalb Jahren arbeiten Sie auf Facebook unter dem Pseudonym "Hiam Gamil", versehen mit einem Photoshop-Antlitz. Wie kam es dazu und was bezwecken Sie damit?
Laila Shams: In Syrien etwas Regimekritisches unter dem eigenen Namen zu veröffentlichen, kommt einem Selbstmordversuch gleich. Daher wählte ich vor anderthalb Jahren einen Decknamen - und zwar einen, der auf keinerlei Konfession schließen lässt. Mir war von Angang an wichtig, gegen die Idee der Konfessionsspaltungen anzuschreiben, die uns die Diktatur einreden will.
Die regierende Assad-Familie gehört selbst der alawitischen Minderheit an und behauptet seit 40 Jahren, dass ohne ihren "Schutz" alle Minderheiten - von Alawiten bis Christen, Drusen, Schiiten oder Ismailiten - einer blutrünstigen sunnitischen Mehrheit hilflos ausgeliefert wären. Auf diese Weise will sie in der Gesellschaft die permanente Angst vor einem Bürgerkrieg schüren und teilweise ist ihr das auch gelungen. Zugleich hat sie so die Alawiten selbst drangsaliert, weil diese in den Verdacht gerieten, allesamt Regimekollaborateure zu sein.
Die gegenwärtigen Massenproteste in Lattakia und Tartous strafen all dem aber Lügen - und zwar eindrücklich: Diese Gegenden besiedeln vor allem Alawiten und diese beweisen unter Einsatz ihres Lebens, dass sie die Diktatur ebenso hassen wie die Sunniten in Daraa oder Douma. Auf meiner Facebookseite mache ich auf diesen Umstand aufmerksam.
Die Jugend hat den Konfessionalismus satt
Ihr Einsatz für eine Konfession, der Sie selbst nicht angehören, ist bemerkenswert. Die Mehrheit der Syrer kümmert sich - seien wir ehrlich - traditionell doch vor allem um ihre eigenen, sprich konfessionsgebundenen Belange. Ist Ihre Arbeit nun eine Ausnahme oder der Ausdruck einer neuen Generation und deren Anschauungen?
Über die politische Gesinnung der Alawiten zu schreiben, galt lange tatsächlich als eines der größten Tabus in Syrien. Man scheute sich, das Wort "Alawit" überhaupt auszusprechen, weil das den Assad-Clan ankratzen könnte. Allmählich hat sich das geändert.
Wir - die 20- bis 30-Jährigen - wehren uns entschieden gegen dieses ganze Konfessionsgetuschele und das ewige Aufhetzen des einen gegen den anderen. Unsere Freundeskreise sind bunt gemischt, vielfach sind wir nicht einmal gläubig. Vor unseren Eltern müssen wir das leider oft genug verheimlichen, weil diese noch traditioneller denken. Vielleicht sind wir durch das Internet weltoffener geworden und lassen uns weniger einschüchtern. Vielleicht waren unsere Eltern aber auch einfach selbst zu einer Zeit jung, als es schier aussichtslos war, gegen Syriens Diktatur anzukämpfen.
In den Siebzigern verfolgte sie bekanntlich auf brutalste Weise die Kommunisten, in den Achtzigern schlug sie die Aufstände der Muslimbrüder in Hama nieder und man weiß bis heute nicht, ob dort zehn- oder dreißigtausend Menschen massakriert wurden, darunter unzählige Unschuldige. Wir, die Jungen, wollen uns nicht damit abfinden, unser restliches Leben unter soviel Terror zu verbringen - und natürlich haben uns Tunesien und Ägypten ermutigt.
Der Crackdown begann bereits 1973
Sie sagen, dass Sie Ihre politischen und religiösen Überzegungen teilweise vor Ihren Eltern verheimlichen. Wie steht es um die ältere Generation der syrischen Opposition? Wieviel Austausch gibt es mit ihr?
Laila Shams: Leider nicht viel. Aber, um die Gründe zu erklären, muss man die gesamte geschichtliche Entwicklung beachten.
Im Jahr 1973 bildete sich in Syrien die Nationale Fortschrittsbewegung, zusammengesetzt aus jenen acht Parteien, die Syrien offiziell regieren: die Baath-Partei, die Nationale Partei, die Kommunistische Partei etc. - de facto hatte von Anfang an nur erstere das Sagen. 1973 aber lehnten diverse Leute es ab, diesem Bündnis beizutreten und fortan galten sie als "die Opposition". Dazu zählten etwa Riad al-Turk und fünf weitere, die 1974 aus der Syrischen Kommunistischen Partei austraten und das Politbüro der Kommunistischen Partei gründeten.
Es bildeten sich weitere Splitterparteien wie die Patriotische Demokratische Partei der Arbeit sowie diverse kurdische Gruppierungen. Aber, wie gesagt: Die brutalen Verfolgungen begannen in den Siebzigern und Achtzigern und auch Baschar al-Assads Amtsantritt 2000 änderte an den Repressalien nichts. Das Resultat: Hatte Al-Turks Partei zu ihrer Glanzzeit 5000 Mitglieder, waren es 2005 noch jämmerliche 500...
"Baschar trieb wieder alle in den Untergrund"
... da war Baschar al-Assad aber schon fünf Jahre an der Macht - der einstige Hoffnungsträger im Aus- wie Inland. Ein junger, schlacksiger, witziger Mann und so ziemlich das exakte Gegenteil der hinterwäldlerisch-finster wirkenden Saddam Hussein und Muammar Gadhaffi...
Weil er uns als Sohn seines Vaters aufgezwungen wurde, begrüßte ihn zwar keiner - aber er kam tatsächlich so frisch daher, dass Hoffnung aufkeimte. Und in den ersten sechs Monaten unter ihm entstanden ja auch alle möglichen Diskussionsforen. Wie zum Hohn aber schlug die eiserne Faust der Diktatur danach erneut zu. Ein Crackdown ohnegeichen prasselte nieder und die Opposition verkroch sich wieder in den Untergrund. Danach folgten Jahre voller Chaos und Verunsicherung: George W. Bush fiel in Afghanistan und in Irak ein, im Libanon wurde Ex-Premier Rafik al-Hariri ermordet.
Die Welt beschuldigte wegen letzterem Syrien und wieder witterte die Opposition Morgenluft, weil es für einen Moment so aussah, als stünde Syriens Diktatur vor dem Aus. Damals formierte sich die sogenannte "Damaskus-Deklaration", die sich zunächst nur auf die konkrete Lage zwischen Libanon und Syrien konzentrierte. Ehrwürdige Köpfe wie Michel Kilo oder Riad al-Seif forderten das Ende der Einmischung Syriens in libanesische Angelegenheiten usw.
Letztlich aber entwickelte sich die "Damaskus-Deklaration" zum Inbegriff der Forderung nach Freiheit und Demokratie in Syrien selbst. Ohne diese Bewegung hätten sich diese Ideen in uns, den Jungen, die wir damals vielleicht erst Anfang Zwanzig waren, wohl kaum so festgesetzt. Doch statt zum Regimesturz kam es zu einem erneuten Crackdown. Die Führer der "Damaskus-Deklaration" wurden alle zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.
Seit einem Jahr sind aber doch fast alle wieder frei?
Laila Shams: Ja. Und wir alle hofften, sie würden einen nationalen Kongress initiieren. Zu dem kam es auch - aber wo und durch wen? Durch Oppositionsangehörige im Ausland. Die, die hier vor Ort und viel näher am Geschehen waren, waren inzwischen so verängstigt, dass sie sich nicht mehr trauten, etwas zu sagen. Das blieb auch so, als vor drei Wochen in Daraa die Massendemonstrationen ausbrachen. Die Repräsentanten der "Damaskus-Deklaration" - seit Jahrzehnten gestandene Oppositionelle - halten bis heute still. Das Maximum, was sie hervor stammeln sind Forderungen nach Reformen, während die "einfachen Menschen" in den Straßen inzwischen längst lauthals einen Regimesturz einfordern.
Den Anschluss an den Alltag verloren
Sie klingen sehr enttäuscht... Glauben Sie, dass das Verhalten der - wie Sie sagen - "gestandenen Oppositionellen" in einer Generationenfrage wurzelt?
Laila Shams: Zunächst: Ich respektiere sie alle. Sie haben nicht nur unter Baschar al-Assad, sondern vielfach schon unter seinem grausamen Vater gelitten, langjährige Folter und Haft erdulden müssen.
Aber, ja - es scheint mir eine Genrationenfrage zu sein.
Wenige von ihnen können mit uns Kontakt auf Facebook aufnehmen. Wenige haben Kontakt zu den kleinen Supermarktbesitzern und Angestellten, die gegenwärtig auf die Strassen gehen. Sie haben ihr Leben im Untergrund verbracht. Alles, was sie taten, geschah im Geheimen, und ich glaube, dass sie deshalb den Anschluss an den Alltag verloren haben.
Ich beispielsweise gucke schnell nach den Nachrichten im Internet, schicke hierhin und dorthin einen Link, poste etwas und treffe mich dann mit Freunden, die sich wiederum gerade via Internet mit Leuten in Süd- oder Nordsyrien ausgetauscht haben. Diese technologische Revolution ermöglicht uns eine Kommunikations- und Bewegungsfreiheit, die den Älteren völlig fremd ist. Sie haben vielleicht Wochen verbracht, um das zu tun, wozu wir momentan eine Stunde benötigen.
"Wir wollen den Sturz des Regimes - nichts weniger"
Repräsentieren Sie und andere Cyberdissidenten einzig aufgrund dieser technologischen Möglichkeiten bereits die "syrische Straße"? Sprich, jene Angestellten, Arbeitslosen, Stammesangehörigen etc., die seit dem 15. März protestieren und von denen de facto die gesamte Bewegung ausgeht?
Ich denke schon. Sicher gibt es Unterschiede im Bildungsgrad. Aber was uns eint, ist das junge Alter und das Ziel: Wir alle wollen endlich frei sein - und das bedeutet nichts weniger als den endgültigen Sturz dieses Terror-Regimes. Alles andere wäre ein fauler Kompromiss. Konkret heisst das: eine Aufhebung des seit 48 Jahren bestehenden Notstandsgesetzes, eine Verfassungsänderung und damit die Tilgung von Paragraph 8, der der regierenden Baath-Partei die alleinige Macht zuschreibt.
Wir wollen die Entlassung der politischen Gefangenen, freie Wahlen, Meinungs-, Medien- und Bewegungsfreiheit - sehr viele Syrer sind wegen ihrer Regimekritik mit Ausreiseverbot belegt - sowie die Beseitigung von Korruption und Klientelwirtschaft. Nicht alle Demonstranten können das in so genaue Worte fassen oder den Medien im In- oder Ausland vermitteln. Diesen Job übernehmen dann unsere Blogs, Twitter- und Facebook-Seiten. Ich behaupte nicht, dass wir ausgereift sind, aber - wir sind da.