"Wir wollten etwas machen, das nur im Netz funktioniert"

Interview mit Mitchell Reichgut, dem Drehbuch-Autor von "The Scene", ein Videoprogramm für die Filesharer-Szene

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"Nach konservativen Schätzungen laden sich mehr als 200 Millionen Leute auf der ganzen Welt Musik, Filme Fernsehserien, Videospiele und anderes elektronisches Entertainment aus Netz. Allein Musik macht pro Woche mehr als eine Milliarde Downloads aus. Aber die Leute, die beim Filesharing mitmachen, wissen in der Regel nicht, woher dieses Material kommt. Sie wissen nicht, dass es eine ganze Welt, eine riesige globale Infrastruktur gibt, die ausschließlich dazu da ist, neues Material zu akquirieren und zu verbreiten. Auf der höchsten Ebene dieser Maschine gibt es einen Ort, von dem fast alle Dateien stammen, die rund um den Globus kursieren. Es ist ein Ort, an dem Geschäfte gemacht werden, an dem Identitäten und Zugangrechte gnadenlos gehütet werden, und wo eine Elite von Technokraten leise die Kontrolle ausübt. Diejenigen unter uns, die sich an diesem Ort aufhalten, haben dafür eine Namen. Wir nennen ihn The Scene."

Mit so dramatischen Worten beginnt die Serie The Scene über die fiktionale Ripper-Gruppe namens CPX, die seit einigen Monaten im Netz kursiert und es inzwischen bereits auf zehn Folgen gebracht hat. Brian Sandro ist unter seinem Internet-Nick Drosan der Chef der Gruppe und organisiert ihre Aktivitäten. Er besorgt die neuesten Filme, bevor sie auf DVD veröffentlicht werden, und koordiniert ihre Veröffentlichung im Internet.

Zwei Besonderheit zeichnen "The Scene" aus. Erstens ist die Serie selbst nur in den Tauschnetzwerken und P2P-Börsen erhältlich, von denen sie handelt. Und zweitens spielt die Serie ausschließlich auf dem Desktop ihres Helden. Produziert wird die Serie von der amerikanischen Internet-Agentur Jun Group. Drehbuchschreiber Mitchell Reichgut erzählt im Interview mit Telepolis, wie die ungewöhnliche Show entstanden ist.

Was ist das Ziel, das Jun Group mit "The Scene" erreichen will?

Mitchell Reichgut: Wir wollten das erste, fortlaufende Videoprogramm machen, das sich speziell an Filesharer richtet. Wir wollten das offensiv und originell machen. Und wir haben gehofft, ein paar Sponsoren zu finden.

Die Idee, die ganze Serie auf einem Computermonitor spielen zu lassen, ist ziemlich radikal. Auch die ganze Geschichte in Echtzeit zu erzählen, ist für einen Krimi trotz "24" relativ ungewöhnlich. Hatten Sie für dieses Programm irgendwelche Vorbilder?

Mitchell Reichgut: Wir wollten dem Zuschauer das Gefühl vermitteln, dass er die Scene wirklich aus erster Hand erlebt. Und wir wollten etwas schaffen, das ganz speziell für den Computer ist. Das Format, das wir entwickelt haben, macht beides. Ich bin stolz darauf sagen zu können, dass es so etwas meines Wissens nach noch nie gegeben hat.

Im Fernsehen und wahrscheinlich auch im Kino würde diese Methode nie funktionieren, weil die Schrift auf dem Computermonitor einfach zu klein ist, um auf dem Fernsehbildschirm lesbar zu sein. Man muss sich das Programm auf einem Computermonitor ansehen...

Mitchell Reichgut: Ja, wir haben festgestellt, dass die meisten Videosachen im Netz eigentlich für ein anderes Medium entstanden sind. Wir wollen etwas machen, das nur im Netz funktioniert.

Soll die Show Piraterie verurteilen?

Mitchell Reichgut: Ganz und gar nicht. Wir unterstützen sie aber auch nicht. Die Show ist fiktiv, und sie soll einen Teil unserer Gesellschaft auf authentische Art und Weise darstellen. Wir fällen kein Urteil darüber, ob das, was die Protagonisten tun, falsch oder richtig ist.

Verbreitung über Mirrorsites, BitTorrents und P2P-Links

Waren oder sind Sie selbst Mitglieder der Scene?

Mitchell Reichgut: Wir haben in den letzten Jahren viel Zeit damit verbracht, über die Scene zu recherchieren, und dabei haben wir viel gelernt. Wir hatten auch das Glück, dass wir einige Leute getroffen haben, die ihr Wissen mit uns geteilt haben.

Die Show wird exklusiv im Internet vertrieben. Bitte erklären Sie, wie das funktioniert.

Mitchell Reichgut: Jedes Mal, wenn wir eine neue Folge fertig haben, verbreiten wir sie in der Scene der echten Scene indem wir gleichzeitig Weblinks, BitTorrents und P2P-Links posten. Wir haben Dutzende von Leuten, die freiwillig „Mirrorsites“ anlegen, was großartig ist, weil wir alleine uns nie die Bandbreite leisten könnten, um der Nachfrage gerecht zu werden.

600 Dollar Produktionskosten für eine Folge

Wie wird die Serie produziert? Wird das alles in Echtzeit gedreht, sehen wir also den Helden Brian, während er das tippt, was wir ebenfalls auf dem Monitor sehen? Und wie kommen die anderen Charaktere ins Spiel? Stammen deren Sätze aus einem Drehbuch oder können sie improvisieren?

Mitchell Reichgut: Der Prozess beginnt mit einem Drehbuch, das ich schreibe und das die Produzenten redigieren und überarbeiten. Wenn das Drehbuch fest steht, nehmen wir die Folge in zwei Teilen auf. Erst die Desktop-Action, also die Chats, den Internet-Messenger und so weiter, und dann das Videosegment, das man links oben auf dem Bildschirm sieht. Wir nehmen zuerst den Desktop-Teil auf dem Rechner von einem der Produzenten auf. Vier aus unserer Firma „spielen“ die verschiedenen Rollen, indem sie chatten und mailen. Wir nehmen das in Echtzeit auf, mit einer Software namens Camtasia. Wenn das erledigt ist, holen wir den Schauspieler Joe Testa, setzen ihn vor den Monitor und lassen ihn auf das reagieren, was auf dem Bildschirm passiert. Ein Cutter setzt das dann alles zusammen, inklusive der Musik, den Voice-Overs und so weiter.

Welche Teile der Show sind gesponsert? Benutzt Brian zum Beispiel bestimme Programme, weil sie von einem werbenden Unternehmen sind, oder sind sie einfach da, weil es realistisch ist?

Mitchell Reichgut: Die ersten beiden Folgen wurden von einer Skateboard-Firma namens Freeboard gesponsert. Wir haben seither viele Gespräche geführt und sind uns sicher, dass wir bald neue Sponsoren finden werden. Bis dahin sind die Sachen, die man auf Brians Desktop sind, nur deshalb da, weil wir dachten, dass jemand wie Brian sie benutzen würde. Die Produktion einer Folge von „The Scene“ kostet etwa 600 Dollar.

Es hat im Netz Gerüchte gegeben, dass Sony die Show sponsert. Ist da was dran?

Mitchell Reichgut: Das stimmt nicht. Sony hat überhaupt nichts mit der Show zu tun. Wir produzieren sie ganz alleine.

Haben Sie einen fertigen Plot, der auch ein Ende hat? Oder entwickeln sie die Geschichte Stück für Stück?

Mitchell Reichgut: Ich habe ein sehr grobes Story-Outline im Kopf. Mir ist es lieber, wenn jede Folge sich organisch entwickelt. Ich weiß aber weder wie noch wann die Show enden wird.