Wird mancher Müll von gestern heute wieder zur Vision?
Ein einig Volk von Patrioten
Deutschland wird plakativ: "Jetzt reichts! Trittin beleidigt ganz Deutschland. Die SPD schaut zu." Während Christof Böhr, wenig bekannter CDU-Spitzenkandidat bei der Rheinland-Pfalz-Wahl sich so empört, textet das Bundesumweltministerium - eher schlecht als recht von seiner gesamtgesellschaftlichen Funktion her ermächtigt - auf seinen Plakaten so zurück: "Manche Visionen von gestern sind heute Müll." Zu sehen auf Trittins ministeriellem Gegenschlag: Ex-Atomminister Strauß besichtigt ein Atomkraftwerk. Selbstverständlich für die Nachfahren des bayerischen Ministerpräsidenten Grund zur tiefsten Empörung!
Würde man sich - parteiübergreifend und jenseits persönlicher Ausfälle gegen verblichene Politgegner - allerdings auf die reine Lehre des Umweltministeriums einlassen, wäre vielleicht wieder Ruhe in Deutschland. Aber weder die deutschnationale Besinnung der Christdemokraten noch der ministerielle Angriff auf die Irrtümer der Geschichte zielen auf die Besänftigung der nationalempfindlich erregten Demokraten. Die vom Zaun gebrochene Diskussion um's reine Deutschsein zielt vor allem auf sich selbst: Die nationale Ökologie ist mindestens so explosiv geworden wie die aus dem Lot geratene Natur zwischen BSE, Maul- und Klauenseuche und globaler Erhitzung. Nur ist sie erheblich kostengünstiger und emotional ungleich werbewirksamer zu führen.
So weiß etwa Schäuble, dass Trittins Vergleich des CDU-Generalsekretärs Meyer mit den Skinheads die Bürger den Rechtsextremen in die Arme treibt. Hier müssen politische Mechanismen am Werke sein, die sich normalsterbliche Demokraten selbst in den kühnsten Träumen einer neuen nationalen Erhebung nicht vorzustellen wagten. Aber Schäubles Warnung muss uns an den Grundfesten des demokratischen Gemeinwesens zweifeln lassen, die doch noch vor kurzem so felsenfest gegründet schienen. Vielleicht könnte auch der Verdacht entstehen, die Wähler sollten in ganz andere Arme getrieben werden, wenn nicht Frau Merkel dem Aufstand der Anständigen ausdrücklich bescheinigt hätte, hier ginge es gar nicht um Wahlkampf. Andererseits sammelt die Rheinland-Pfalz-CDU bis zur Landtagswahl an 500 Informationsständen Unterschriften mit der Forderung nach Trittins Rücktritt und die NPD eilt gleich zur ungebetenen Wahlhilfe: Man werde Aufkleber mit der Parole "Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein" an die Unterzeichner der Initiative verteilen.
"Peinlich: Rau mit gestörtem Verhältnis zur Nation Das paßt blendend zum Vorzeigedemokrat des BRD-Regimes: Bundespräsident Rau hat in einem Gespräch geäußert, man könne nicht stolz darauf sein, daß man Deutscher ist. Bestenfalls könne man darüber froh und dankbar sein, während man stolz nur auf das sein könne, was man selber zu Wege gebracht habe. Diese Aussage verwundert das NIT wenig, weil es zum guten Ton der Systemlinge gehört, ein gestörtes Verhältnis zur eigenen Nation zu haben und den aufrecht gebückten Gang zu kultivieren. Was sonst sollte man von Politikern erwarten, die aus Deutschland einen multikulturellen Vielvölkerstaat machen wollen? Union und FDP spielen dabei brav die Rolle der Opposition und kritisierten die Äußerung Raus. So sagte der CSU- Generalsekretär Thomas Goppel, bei einem Bundespräsidenten, der keinen Stolz darauf empfinde, Deutscher zu sein, müsse die Frage erlaubt sein, ob er die 80 Millionen Bürgerinnen und Bürger seines Landes angemessen vertrete. Auch diese Formulierung ist geradezu absurd: Von den 80 Millionen "Bürgern" sind schließlich mindestens zehn Millionen nichtdeutscher Abstammung. Für die übrigen gilt allerdings trotz aller Umerziehungsmaßnahmen und Bußrituale, daß eine Mehrheit stolz auf ihre Abstammung empfindet. Nach einer Allensbach-Umfrage aus dem Januar 2001 äußerten 53% im Westen und 56% in Mitteldeutschland, sie seien sehr oder ziemlich stolz, Deutsche zu sein. FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle betonte: "Unser nationales Selbstverständnis braucht auch gerade nach den Äußerungen des Bundespräsidenten eine Grundsatzdiskussion." Das fehlt ja noch: Friedman, Trittin, Geißler und Thierse in einer Diskussion über "Nationale Identität" - lächerlicher geht's nicht." (Kommentar seitens der Neonazi-Seite Nit.de)
Alte Kameraden
Die Wiedergeburt des Nationalen aus dem Geist von Parteienzwist, politthematischer Verarmung und verkümmertem Selbstbewusstsein wird jetzt also eingeleitet und keiner soll sich dieser Diskussion, die so wohlfeil und semantisch unsauber zu führen ist, entziehen. Warum aber gerade jetzt? Trittins Tritt ins Fettnäpfchen der nationalen Gefühlsküche mag dafür kaum ausreichend sein, hatte doch schon zuvor die bis auf die bleichen Knochen diffuse Beschwörung der deutschen Leitkultur vermuten lassen, dass am deutschen Wesen allenfalls die hier ohne Doppelpass eingebürgerte Welt genesen könnte.
Würde man die deutsche Volksseele auf die Couch des Psychoanalytikers legen, könnte es sich vielleicht erweisen, dass der allenthalben ausgebrochene Nationalstolz sich untergründig über die Bereitstellung der Zwangsarbeiterentschädigungen legitimiert. Führt endlich ein Weg von der Entschuldung zum schuldenfreien, unverkrampften Nationalbewusstsein? Selbstverständlich nicht. Deutschland hat mit Woody Allen neben der Komik bei der Identitätsfindung gemeinsam, dass die Aufforderung, unverkrampft und locker (so die Diktion des Altbundespräsidenten Roman Herzog) zu reagieren, das Gegenteil hervorruft.
Das deutsche Nationalbewusstsein, das schon je seine historische Fragilität in globalen Allmachtsfantasien überkompensierte, ist seit dem Ende des Nationalsozialismus unverbrüchlich mit der Schuld an Völkermord und Krieg aufgeladen. Was lag also näher, als dieses verquere Gefühl, das nicht mehr pur und lauter zu genießen war, in der Gruft der hässlichen Geschichte zu versenken und nach neuem Identitätsstoff zu suchen. Folgerichtig schämte man sich in offiziellen Verlautbarungen, dekretierte in den 50er und 60er-Jahren immer wieder das Ende des Nationalen, feierte durch das schlechte Gewissen motiviert hier Europa, während dort in der DDR ohnehin der völkerverbindende Sozialismus nur aus strammen Antifaschisten bestand.
Mit dem Verfassungspatriotismus erschien spät ein seriöser Anwärter auf einen rationalistisch abgefederten Stolz auf Verfassung, Recht, demokratische Institutionen und die liberale Atmosphäre einer aufgeklärten Gesellschaft. Gegenüber dem schwerblütigen bis dumpfen Nationalismus erwies sich aber die Überformung eines wilden Gefühls durch die konstitutionellen Errungenschaften des Gemeinwesens als wenig kraftvoll bis blutleer. Auch der Verfassungspatriotismus, den Habermas als politisch-praktischen Appendix seiner rationalen Gesprächsgemeinschaft entwarf, predigte zwar den Stolz: den Faschismus auf Dauer überwunden und eine rechtsstaatliche Ordnung in einer liberalen politischen Kultur etabliert zu haben. Aber dieser Stolz, den man für die besseren Werte des Gemeinwesens retten wollte, konnte nicht wie seine mächtigen Vorfahren zu einer echten kollektiven Triebfeder der Demokraten avancieren. Gegenüber den neonazistischen Umtrieben scheinen postnationale Identität und Rechtsstaats- wie Demokratieuniversalismus doch nicht auszureichen, die Nation in toto von ihren starkdeutschen Trieben zu erlösen.
Verflüchtigt sich also das Nationale nicht in der glasklaren Atmosphäre eines rationalen Gemeinwesen, geht's jetzt angeblich wieder um die Wiederbesetzung des sonst an die Rechten verlorenen Terrains. Aber mit welcher Deckungsmasse wird die Rekolonisierung betrieben? Wer hier Europa zitiert, mag aus mehreren historischen Gründen richtig liegen. Bereits die "Französische Revolution", die den Nationalstaatsgedanken mit sich führte, begriff sich zugleich kosmopolitisch. Vaterland und Freiheit der Völker passten damals noch zusammen. Europa mag in seinen zarten Anfängen nach Kriegsende auch eine solche einvernehmliche Vision aus nationalstaatlichen und supranationalen Interessen gewesen sein. Heute will der bürokratische Moloch, der nicht nur von Korruptionen und Skandalen, sondern auch von partikularen Interessen geschüttelt wird, dagegen immer weniger Identität stiften.
Deutsch sein heißt, immer während seine Identität zu suchen
Wie stellt man also eine Identität her, wenn doch der Verlust von Idealen und Ideologien, der selbstzufriedene Anblick einer konkurrenzlosen Gesellschaftsform gerade nichts dafür hergibt? Vielleicht könnte man ja ganz auf kollektive Identität verzichten und etwa bildungspolitische Anstrengungen verstärken, der individuellen Identität auf die Sprünge zu helfen?
Die kritischen Analysten der nationalen Gesellschaft mit beschränkter Haftung sind sich aber relativ einig: Wer nach seiner Identität fahndet und wenig Bindungsmasse dafür findet, hat gute Gründe, sich auf das Nationale zu besinnen. Das Nationale entbindet das allseits geschüttelte Individuum von quälenden Selbst- und Weltzweifeln. Sollte Adorno mit seiner arroganten Feststellung Recht gehabt haben, dass es bei manchen Menschen eine Unverschämtheit ist, "Ich" zu sagen, darf dieses "Ich" jetzt wieder heim ins national aufgeklärte Reich des "Wir" geführt werden. "Wir sind wieder wer" - nach Wirtschaftswunder, Wiedervereinigung und sogar internationalen Militäraufträgen jetzt erst recht. Der Wirtschaftsnationalismus, der zuvor Nation und Profit in den neuen Bundesländern beflügelte, hat seine frühe Strahlkraft im Zeichen der DM längst verloren. Also woher rührt der neue Stolz, der bei den einen zu neonazistischer Blut- und Bodenideologie pervertiert, während er bei den anderen als verfeinerter Patriotismus einer Kulturnation durchgehen soll?
Ist einer stolz auf seine Leistungen, sollte er sich - je nach Glaubensstandpunkt und Glückseligkeitsfacon - eher bei Gott, dem Teufel (zuständig für die Talente!), der Schöpfung, seinen Eltern, seiner genetischen Mitgift oder der Gesellschaft als bei sich selbst bedanken. Aber der Stolz ist ein Selbstläufer und Querschläger, der sich nicht der einfachsten Logik beugt, sondern so selbstverliebt ist wie sein Träger. Stolz gibt dem gebeutelten Ich eine breite Kontur, die in schweren Zeiten einer Verflüchtigung gestriger Großmannsfantasien nicht mehr leicht zu beschaffen ist. "Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein" schien zuletzt das Selbstverständnis auszufüllen, das man benötigt, um eine Fußballweltmeisterschaft für ein paar Halbzeiten durchzustehen. Hinterher sind zwar manche klüger und der Stolz verraucht in der Wut über Nationaltrainer und gesamtdeutsche Fußballkrücken, aber schön ist's trotzdem, wenn die allerletzte Strophe der Nationalhymne aus elf ungestimmten Kehlen erschallt, um dem Feind die Furcht vor deutscher Melodik einzuflössen, wenn doch schon der deutsche Nationalball zum armseligen Geschoss auf fremder Erde wurde.
Keine Zeit für Kompromisse
In dieser Stunde der nationalen Erhebung hat Bundespräsident Rau versucht zu vermitteln: Man könne froh und dankbar sein, ein Deutscher sein, aber stolz darauf könne man nicht sein. Sicher können wir froh sein, nicht im Südsudan, Sierra Leone, Liberia oder in Dutzenden anderen Ländern des Elends und der Not geboren zu sein. Froh zu sein, bedarf es bekanntlich wenig, und wer also über seinen persönlichen Standortvorteil und uneinholbaren Geburtsvorteil wirklich froh werden sollte, hätte eigentlich gute Gründe, sich eher um das Frohsein der Anderen zu bekümmern, als sein eigenes "Frohsein" an die große Glocke zu hängen oder gar seine T-Shirts jetzt so zu betexten.
So hat's der Bundespräsident sicher nicht gemeint, aber als Identitätsstoff ist das "Frohsein" eine schwache Währung - im Übrigen einen semantischen Steinwurf weit vom Pharisäertum entfernt und - leider auch - ein Nahverwandter des Stolzes. So ist Raus Formelkompromiss, der gleich wütende Zweifel an seiner Unparteilichkeit auslöste, gescheitert und in der gesellschaftlichen Restpostenverwaltung der guten alten Werte soll der Patriotismus also höher gehandelt werden. Aber wie hoch eigentlich?
Leere Reden an die deutsche Nation
Für FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle ist nach den Äußerungen Raus eine Grundsatzdiskussion über das nationale Selbstverständnis fällig. Nun wäre es ein feiner Zug von Westerwelle und den anderen Rhetorikern der nationalen Besinnung, wenigstens den kleinsten Versuch zu unternehmen, das nationale Selbstverständnis selbst zur Sprache kommen zu lassen. Das Motto für Westerwelles Vorschlag hat Nietzsche lange vor der Zeit ausgegeben: "Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage 'was ist deutsch' niemals ausstirbt". Aber die Unsterblichkeit der nationalen Selbstfindung lässt vermuten, dass es darauf heute so wenig wie gestern eine Antwort gibt, die von der panischen Diskussion zur national bequem zurückgelehnten Selbstsicherheit zügig voranschreitet.
Denn die Diskussion sieht so aus: Nach Kanzler Schröder haben die anderen Parteien kein "Monopol auf patriotische Gesinnung". Während diese aber aus patriotischem Selbstverständnis heraus den Patriotismus Raus bezweifeln, weiß SPD-Fraktionsvorsitzender Peter Struck, dass Rau so patriotisch wie der Papst katholisch ist. Erleben wir also gegenwärtig den patriotischen Overkill ohne zündendes Pulver? Nein, meint die Vorsitzende der CDU Deutschlands Angela Merkel, es ginge gar nicht um ein so genanntes Monopol auf patriotische Gesinnung, sondern darum, welche Kabinettsmitglieder Herr Schröder dulde. Gewiss, aber diese Duldung könnte vielleicht doch auf einen falsch verstandenen Patriotismus Schröders zurückzuführen sein, wenn er den "vaterlandslosen Gesellen" Trittin nicht entlässt. Der Kanzler wiederum verbittet sich, Nachhilfeunterricht in Sachen "Patriotismus" anzunehmen.
Offensichtlich führen also nationalfundamentalistische Diskurse in Deutschland zu unendlichen Rückgriffen auf die patriotische Volksseele, die irgendwo zwischen dem Stolz auf Sauerkraut und dem hehren Band der gemeinsamen Sprache angesiedelt ist. Dieser Stolz dürfe aber nicht zu einer Floskel werden, "die sich Rechtsradikale auf die Glatze schreiben, um sich als Sachwalter nationaler Interessen aufzuspielen", meint der Kanzler. So bleibt es - wie bei der implodierten Leitkulturdiskussion auch schon - also bei der Selbstversicherung der verfassungsgemäß bestellten Sachwalter, weil es letztlich weder die wahren noch die falschen Patrioten interessiert, was denn so patriotisch sein könnte, wenn doch schon der patriotische Verdacht gegenüber dem Mangel an wahrem Patriotismus des Politgegners die stolze Antwort ist. Offensichtlich weiß also niemand so genau, welchen deutschen Diskurs er nun beobachtet, weil es ja weder um Patriotismus noch um Wahlkampf und schon gar nicht um Trittin oder Meyer geht. Aber irgendwie wohl doch...
Vorschlag zur Ungüte
Wir sollten den deutschen Patriotismus weiterhin so verkrampft und ohne Angabe von Gründen diskutieren, wie es schließlich dem dräuenden Thema und seiner medialen Verwurstung angemessen ist, damit auch unsere Kinder und Kindeskinder ein bisschen von dem Spaß haben, der sich uns deutschen Dichtern und Denkern unter den Händen und vor allem weit unterhalb des Verstands zur fröhlichsten Hysterie verwandelt.
Andere Völker mögen das anders sehen und selbstverständlich dürfen etwa die Amerikaner stolz auf Amerika sein. Denn wer wollte deren schwere Nationallast auf die eigene leichte Schulter nehmen? Wir haben andere Lasten: "Der Deutsche schleppt an seiner Seele; er schleppt an allem, was er erlebt. Er verdaut seine Ereignisse schlecht, er wird nie damit fertig; die deutsche Tiefe ist oft nur eine schwer zögernde Verdauung." Das ist doch wenigstens mal eine funktionale Aussage zum deutschpatriotischen Volkskörper?
Wahrscheinlich wollte der Urheber dieser unfeinen, aber zeitgemäßen Betrachtung, Friedrich Nietzsche, deshalb kein Deutscher sein, was Nationalisten aller couleur indes nie daran hinderte, ihn für sich zu reklamieren. Sollten wir also in diesen Tagen tatsächlich lediglich Zeugen einer patriotischen Verdauungsstörung der Nation sein, während wir doch zuvor glaubten, es ginge um den stolzen Schrei aufgeklärter Patrioten? Friedrich Merz liegt jedenfalls im Trend der neuen patriotischen Selbstreinigung: Die "politische Hygiene" in Deutschland könne nur wieder hergestellt werden, wenn der Bundesumweltminister entlassen würde. Deutschland muss also wieder sauber werden!