Wirecard, Olaf Scholz und die große Heuchelei
Der SPD-Rechte wird genau für das kritisiert, was ihn bisher zum besonders geeigneten Kanzlerkandidat gemacht hat: Er erfüllt der deutschen Wirtschaft ihre Wünsche möglichst schon, bevor sie sie formuliert
Nach dem von Protesten begleiteten G20-Treffen in Hamburg galt Olaf Scholz 2017 als angeschlagener Bürgermeister. Das hinderte ihn nicht, in der SPD Karriere zu machen. Dass er bis heute beharrlich die vielfach dokumentierte Polizeigewalt gegen die Gipfelgegner leugnet, war für Scholz natürlich keine Karrierebremse in einer Partei, die den selbsternannten Bluthund gegen die eigene Basis, Gustav Noske, nicht einmal posthum ausgeschlossen hat.
Als Scholz dann im SPD-internen Streit um den Parteivorsitz unterlag, wurde er Ende letzten Jahres in den Medien erneut als angeschlagen bezeichnet. Nur wenige Monate später wurde der gleiche Politiker zum natürlichen Kanzlerkandidaten der SPD hochgeschrieben, obwohl die Partei noch nicht einmal erklärt, ob sie mit ihren Umfrageergebnissen, die sich nicht wesentlich von den Ergebnissen der letzten Wahlen unterscheiden, überhaupt einen Kandidaten aufstellt.
Doch das Hochschreiben von Scholz ist auch ein Affront gegen das gegenwärtige SPD-Führungsduo. Ein Großteil der Medien hat immer wieder an dem Bild gemalt, das Esken und Borjahns angeblich zu links wären und die SPD in eine weitere Niederlage führen würden. Das mag sogar sein, ist allerdings ein strukturelles Problem der SPD. Immer wieder wurden angebliche Hoffnungsträger aufgebaut, die oft in wenigen Wochen entzaubert waren wie Martin Schulz. Bei Andrea Nahles dauerte es etwas länger.
Das gilt auch für das gegenwärtige Spitzenduo, das bei den parteiinternen Wahlen mit einer deutlichen Distanz zur Koalition mit der Union angetreten ist. Davon hat man nach deren Wahl nichts mehr gehört. Die Regierungskooperation mit den Konservativen geht so geräuschlos weiter, wie sie auch unter einem SPD-Vorsitzenden Scholz nicht anders gelaufen wäre. Damit relativiert sich erneut das Medienbild vom Linksruck in der SPD durch die Wahl von Borjahns und Esken.
Was man Letzterer zubilligen kann, ist, dass sie gelegentlich noch Erklärungen abgibt, die nicht so klingen, als wären sie schon vom Parteiapparat geglättet worden. So wollte sie sogar einen "strukturellen Rassismus" bei der Polizei nicht ausschließen, nur um nach der Empörungswelle von Polizeigewerkschaft und Konservativen ihre Aussage immer weiter zu relativieren.
Genosse der Bosse
Mit Scholz wurde hingegen medial ein Mann als Kanzlerkandidat aufgebaut, der bereits beim G20-Gipfel in Hamburg gezeigt hat, dass er bedingungslos hinter der Polizei steht und das Vertrauen der Wirtschaft in Deutschland hat. "Genosse der Bosse" gilt ja nicht erst seit Gerhard Schröder in der SPD als Auszeichnung und ganz in dieser Tradition vertrat Scholz die Interessen des nationalen Wirtschaftsstandorts Deutschland.
Genau das machen alle anderen relevanten Parteien in Deutschland ebenfalls, nur über die Frage, wie dieser Standort am besten verteidigt werden soll, gibt es manchmal Kontroversen. In linksreformerischen Medien wie der Wochenzeitung Freitag wird heftig diskutiert, ob Scholz die Chancen bei den Wahlen eher erhöht, wie es der Publizist Albrecht von Lucke behauptet, der noch vor 5 Jahren mit dem Buch "Die schwarze Republik und das Versagen der deutschen Linken" für eine linke Alternative zur gegenwärtigen Regierungskonstellation warb.
Albrecht von Lucke kann man mit seinen Kommentaren beim Gang in die bürgerliche Mitte zuschauen. Das Modell einer linken Reformregierung unter Einschluss der Linken will er mittlerweile vergessen. Nur in Scholz setzt Lucke noch Hoffnung, fürchtet aber, dass die Jusos für ihn keinen engagierten Wahlkampf machen. Doch die Befürchtungen durften grundlos sind. Die Jusos sind heute längst so stromlinienförmig, dass ein paar soziale Allgemeinplätze bei Kevin Kühnert reichen, um als links zu gelten und dann gleich in den Parteivorstand zu kommen.
Es gibt aber auch linke Kritiker von Luckes wie den Jenaer Soziologen Klaus Dörre, der der SPD rät, Olaf Scholz zu überwinden und der für eine Kooperation zwischen Wirtschaft und Umweltbewegung plädiert. Dörre liefert aber einige brauchbare Erklärungen dafür, dass die SPD eine 20-Prozent bleibt, egal wer gerade an der Spitze ist.
Die SPD hat ihre frühere (Fach)Arbeiterbasis zu erheblichen Teilen längst verloren. In den Autoländern Baden-Württemberg und Bayern hat sie die Arbeiterschaft mehrheitlich nie erreicht - betrieblich rot, politisch tiefschwarz hat hier Tradition. Mit Gerhard Schröders Agenda-Politik und einer vermeintlichen Öffnung in die Mitte verlor die SPD dann etliche ihrer Anhänger aus der Arbeiterschaft.
Klaus Dörre, Freitag
Auch Dörres Überlegungen zur Zusammensetzung der Lohnabhängigen, unter denen die Facharbeiter längst nicht die Majorität und die Autobauer eine lautstarke Minderheit sind, ist diskussionswürdig. Doch die eigentliche Frage stellt auch Dörre nicht. Wieso brauchen wir eigentlich noch die realexistierende SPD? Und worauf stützt sich der Glaube, man könne mit dieser Partei eine irgendwie linke Politik machen?
Mafia und Heuschrecken
Nun kommt von denen, die voll des Lobes über Olaf Scholz waren, der immer weiß, was die deutsche Polizei und die deutsche Wirtschaft wünscht, Zweifel an ihrem Favoriten. Denn Scholz hat auch im Fall Wirecard die Interessen des deutschen Standortes vertreten. Und da war Wirecard nun mal bis vor einigen Wochen ein Vorzeigemodell.
Nun stellte sich heraus, dass der Dax-Konzern unter dem Radar der deutschen Finanzaufsicht seine ganz spezielle Version des Kapitalismus betrieben hat. Da hat man auch schon mal Luftbuchungen in Millionenhöhe vorgenommen. Prompt kommt die Stunde der Heuchler, die nun ganz besonders klare Kante gegen angebliche schwarze Schafe unter den Kapitalisten zeigen wollen.
Prompt geraten Charaktermasken wie Scholz in die Kritik, weil sie das gemacht haben, für das sie eben noch hochgelobt wurden: den deutschen Standort zu stärken und der deutschen Wirtschaft möglichst ihre Wünsche schon zu erfüllen, bevor sie von ihr ausgesprochen werden.
Natürlich reden die meisten, die sich jetzt über Wirecard aufregen nicht von Kapitalismus, dafür wird der in Ungnade gefallene deutsche Dax-Konzern dann beispielsweise von SPD-Vorsitzen Borjahns zur "hochintelligenten Finanzmafia". Dass die Verantwortlichen dabei genau die kapitalistischen gesetzlichen Möglichkeiten ausnutzen, über die auch Borjahns und Co. nie reden wollen, wird dabei verschwiegen.
Zur Mafia wird ein kapitalistisches Unternehmen dann, wenn es bei der Durchsetzung seiner kapitalistischen Methoden öffentlichen Unmut erzeugt. Wären die Wirecard-Verantwortlichen Bürger der USA hätte man vielleicht die Heuschrecken-Metapher wieder aus dem Inventar einer regressiven Kapitalismuskritik geholt, wie es Franz Müntefering, ein vor 15 Jahren bekannter SPD-Politiker, praktiziert hat.
Wer von Heuschrecken und Mafia redet, will von kapitalistischen Mechanismen genau so wenig wissen wie alle Politiker und Medien, die erst, als sich prekär Beschäftigte Arbeiter bei Tönnies mit dem Corona-Virus angesteckt haben, entdeckten, dass es im Kapitalismus Ausbeutung gibt. Die geplanten Maßnahmen zur besseren Regulierung der dort Beschäftigten werden dann auch von manchen Medien als Kampf gegen die Ausbeutung bezeichnet.
Vergessen wird, dass Ausbeutung der Ware Arbeitskraft ein Strukturelement des Kapitalismus ist und nichts darüber aussagt, wie gut oder schlecht die Arbeitsbedingungen sind. Sowohl bei Tönnies wie bei Wirecard wird ein moralischer und kein analytischer Begriff von Ausbeutung angewandt, der dafür sorgt, dass immer wieder mal schwarze Schafe angeprangert werden, der Kapitalismus aber umso besser weiterläuft.
Auch der Organisation Lobby Control fällt nur ein, ihren Evergreen von mehr Transparenz bei Wirecard zu wiederholen. Finanzminister Scholz will wieder einmal die Finanzaufsicht stärken.
Die Opposition wiederum will mit einem Untersuchungsausschuss das Thema lange am Köcheln halten und hofft, dass es den Nimbus des Wirtschaftsverstehers Olaf Scholz ankratzt. Doch egal, ob er oder jemand anderes Kanzlerkandidat der SPD wird, vorher muss er sich darin beweisen, dass er den Wirtschaftsstandort Deutschland treu zu Diensten und Ausbeutung als moralische Kategorie und nicht etwa als Strukturelement des Kapitalismus versteht.