Wissen im Netz

Philosophie für Netzbewohner

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Die meisten Menschen vertrauen ihren Erinnerungen an Beobachtungen und Erlebnisse. Woran sie sich klar und deutlich erinnern, dessen sind sie sicher, egal, ob es sich um einen Urlaub handelt, um die Frage, wo sie ihre Schlüssel hingelegt haben, ob sie das Licht ausgeschaltet haben, ob das Notebook im Arbeitszimmer steht. Aber man weiß aus Erfahrung auch, dass man sich irren kann, dass Erinnerung verblasst oder schlicht trügerisch ist.

Um eigene Erinnerungen zu stabilisieren, benutzen wir Hilfsmittel. Ich könnte mir angewöhnen, von jedem Raum, den ich verlasse, mit meinem Smartphone ein Foto zu machen, das Foto könnte ich auf meinen WebSpace hochladen und damit fast jederzeit und überall überprüfen, ob ich mein Notebook im Arbeitszimmer zurückgelassen habe. Ich könnte an wichtigen Orten sogar eine Webcam installieren und dort nachsehen, ob der Raum sich noch in dem Zustand befindet, wie ich ihn der Erinnerung nach verlassen habe.

Das Gedächtnis auslagern

Wenn ich so vorgehe, dann beginne ich sozusagen, mein Gedächtnis auszulagern, um meine Zweifel über das, was ich zu wissen glaube, verkleinern zu können. Das haben wir schon immer getan, seitdem wir z. B. Telefonnummern aufschreiben oder Urlaubsfotos in Fotoalben kleben und mit Ort und Datum beschriften, um uns besser erinnern zu können, wann wir wo gewesen sind. Solche Informationen im Netz abzulegen erweitert diese Möglichkeit zunächst nur graduell und nicht qualitativ. Wir können dann also, wenn wir Zweifel an einer Überzeugung aus der Erinnerung haben, auf solche Erweiterungen unseres Gedächtnisses zugreifen, um Zweifel zu zerstreuen oder zu bestätigen.

Mein eigenes Gedächtnis, so gut es trainiert sein mag, ist trügerisch und vor allem nicht überprüfbar, nicht einmal durch mich selbst, so könnte man argumentieren, sicher ist nur, was ich irgendwo aufgeschrieben, abgespeichert – verewigt – habe, also ist es gar nicht sinnvoll, sich etwas zu merken. Sinnvoll kann nur sein, alle Informationen sicher und überall abrufbar abzuspeichern und sich lediglich zu merken, wo sie gespeichert sind.

Ist das eigene Gedächtnis wirklich nicht überprüfbar, muss ich vor allem an eigenen Erinnerungen zweifeln und sind meine Notizen, Fotos, Aufzeichnungen dagegen über jeden Zweifel erhaben? Bevor man vorschnell das eigene Gedächtnis dem Zweifel preisgibt, lohnt es sich natürlich, ein paar Gedanken darauf zu verwenden, ob es nicht auch Möglichkeiten gibt, das Gedächtnis ohne Zuhilfenahme von sicheren Aufzeichnungen zu überprüfen: Die beste Möglichkeit, das zu tun, ist natürlich die innere Konsistenz des Erinnerungsstroms. Die Ereignisse, derer ich mich erinnere, dürfen nicht zueinander in Widerspruch stehen und müssen zu dem Zustand der Wirklichkeit passen, wie ich ihn momentan vorfinde. Wenn ich mich erinnere, vor Jahren ein Buch verschenkt zu haben, dann sollte das Buch nicht in meinem Bücherschrank stehen, es sei denn, ich würde mich zudem erinnern, es mir erneut gekauft zu haben. Ich kann also meine Erinnerungen zum einen an anderen Erinnerungen, zum anderen an der erlebten Gegenwart überprüfen. Hilfsmittel wie Fotoalben und Notizbücher sind Teil dieser Gegenwart, ich nehme sie ja meistens zur Hand, wenn ich meine Erinnerungen plausibel rekonstruieren will, ich baue mir nicht aus den externen Informationen jedes Mal eine neue Erinnerungswelt, sondern ich bringe meine Erinnerungen mit den Dingen, die in der Vergangenheit entstanden sind, in Übereinstimmung.

Netz-Wissen muss interpretiert werden

Das Interessante ist ja, dass externe Speichermedien immer nur einen kleinen Teil der Vergangenheit beinhalten können. Es ist gar nicht das Problem, ob ihre Echtheit zu bezweifeln wäre, sondern ob sie mir überhaupt ohne wirkliche Erinnerungen in meinem Kopf etwas sagen könnten.

Ausgelagerte Informationen muss ich immer interpretieren, damit sie zu Wissen über die Vergangenheit werden. Das ändert jedoch nichts daran, dass erhebliche Teile dieses Wissens sich außerhalb meines Kopfs befinden können, ich kann sie auf Papier, der Festplatte meines Computers oder irgendwo in der Cloud abgelegt haben. Wissen ist dann nicht mehr das, was ich in meinem Kopf habe, sondern das, was ich zuverlässig aus einem Speicher abrufen und richtig interpretieren kann. Ich baue mir sozusagen bei Bedarf meine Überzeugungen aus meinen Erinnerungen und meinen Aufzeichnungen immer wieder zusammen. Das Wissen ist nicht in meinem Kopf, es ist auch nicht außerhalb, es ist gespeichert in einem dynamischen Netz, in dessen Mitte sich zwar mein Kopf befindet, das aber weit in die Wirklichkeit hinausreicht und Notizen, Fotos, Ton und Videoaufzeichnungen, aber auch Gegenstände, die ich irgendwo abgelegt habe, umfasst.

Dieses Netz kann, spätestens seitdem ich meine Erinnerungshilfen auch in der Cloud speichere, fast unendlich groß sein, und ich weiß streng genommen gar nicht, was alles dazu gehört. Die vernetzte Vernunft zeichnet sich dadurch aus, dass sie in ihrem Zentrum zwar den Geist eines Menschen hat, dass ihre Fäden und Knoten aber weit nach draußen reichen und dass sie dort überall ihre Fäden spinnt und verknüpft, um das, was sie weiß, bei Bedarf immer wieder neu zu rekonstruieren. Alles, was auf den Servern abgelegt ist, alle Texte, Fotos, Video und Tonsequenzen, sind tot und sinnlos, solange sie nicht zwischen den Knoten des Netzes ausgetauscht und in dieser Kommunikation interpretiert, mit Bedeutung versehen werden.

Überzeugungen bilden sich als Geflecht im Netz

Auch meine Überzeugungen hinsichtlich bestimmter Sachverhalte der Vergangenheit, werden zwischen den Knoten eines solchen Netzes gebildet. Ausgangspunkt kann eine Erinnerung sein, die zunächst undeutlich ist, sie ist der Faden, an dem entlang ich mich in das Netz vorarbeite, und umso mehr Fäden ich aufnehmen kann, die meine Erinnerung bestätigen, desto sicherer werde ich, dass meine Erinnerung richtig ist. Ich habe nicht viele Möglichkeiten, den Zweifel an meinen Erinnerungen durch bloße Überprüfung meines Gedächtnisses auszuräumen. Während ich bei meinen eigenen Erinnerungen immer Zweifel haben kann, ob eine Erinnerung mich trügt, und sich dieser Zweifel weder vollständig ausräumen noch bestätigen lässt, muss sich die Information, die ich aus der Wirklichkeit außerhalb von mir beziehe, überprüfen lassen.

Dieser Zweifel muss begründet werden. Dazu dehne ich das Netz, welches meine Überzeugung bilden soll. Nehmen wir etwa an, ich zweifle am Speicherdatum eines Blogartikels auf meiner Festplatte, dann kann ich z. B. im Blogarchiv erneut nach dem Text suchen und das Dateidatum mit dem Erscheinungsdatum vergleichen, oder ich suche in den sozialen Netzwerken nach Links auf diesen Artikel, weil ich mich erinnere, nach der Veröffentlichung des Textes solche Links gepostet zu haben oder weil ich das normalerweise immer tue. Es kann aber auch sein, ich greife zuerst wieder auf eine konkrete Erinnerung zurück, also dass ich den Text aus einem bestimmten Anlass geschrieben habe oder dass ich mir kurz zuvor ein Buch von Wittgenstein gekauft habe. Dann könnte ich bei meinem Konto des OnlineBuchhändlers meines Vertrauens nachsehen, um herauszufinden, wann ich das Buch erworben habe.

Diese verschiedenen Informationen, die aus Büchern im Regal, Links in sozialen Netzwerken, Dateiangaben auf der Festplatte und Kontoinformationen des Buchhändlers, aber auch aus den mehr oder weniger deutlichen Erinnerungsfetzen in meinem Gedächtnis bestehen, bilden meine Überzeugung. Jede einzelne dieser Informationen könnte falsch sein, die Links könnten durch einen Softwarefehler das falsche Datum enthalten, ebenso die Kontoinformationen beim Buchhändler, mein Notebook könnte beim Speichern der Datei falsch eingestellt gewesen sein, mein Gedächtnis kann mich schlicht trügen, aber wenn sich zwischen den Einzelinformationen eine Konsistenz zeigt, dann bildet sich bei mir eine feste Überzeugung hinsichtlich der Frage, wann ich diesen Text über Wittgenstein nun geschrieben habe. Diese Überzeugung hat sich also zwischen den verschiedenen Einzelinformationen gebildet, sie ist umso sicherer, desto mehr die Fäden, die von einem Fakt zum anderen gehen, miteinander verwoben sind.

Informationen in meinem Besitz

All diesen Informationen ist gemeinsam, dass sie mir selbst gehören. Ich selbst habe sie aktiv erzeugt. Meine Erinnerung in meinem Gedächtnis, das ist ganz klar, ist durch meine eigene Handlung, das Schreiben des Textes, den Kauf des Buchs, zustande gekommen. Die Datei habe ich selbst auf dem Computer gespeichert und niemand anders hat das Kennwort, um dieses Gerät zu benutzen. Auch die Links in den sozialen Netzwerken habe ich selbst gesetzt, ich kann mich vielleicht daran erinnern, aber ich erkenne es auch daran, dass sie unter meinem Profil gespeichert wurden, und auch hier habe nur ich Zugriff. Der Eintrag im Konto beim Online-Buchhändler ist durch meinen Kauf erzeugt worden. Dadurch, dass ich all diese Spuren in der Wirklichkeit selbst gelegt habe, gehören sie zu mir. Ich weiß, dass sie "echt" sind, denn ich bin davon überzeugt, dass sie von mir stammen müssen.

Dabei bildet allerdings schon der Eintrag im Käuferkonto des Online-Buchhändlers einen Grenzfall am verschwimmenden Rand meines Überzeugungsnetzes, eigentlich auch schon der Link im sozialen Netz. Den Link habe ich noch selbst erstellt, er sieht so aus, wie ich ihn eingestellt habe, ich könnte ihn auch selbst entfernen und verändern. Natürlich weiß ich, dass auch der Betreiber des Netzwerks so einen Link erzeugen oder dass durch einen Programmierfehler der Link eines anderen Benutzers auf meinem Profil auftauchen könnte. Diesen Überzeugungsbaustein habe ich schon nicht mehr ganz allein geformt. Beim Kundenkonto liegt die Sache aber noch ein bisschen anders: Zwar kam der Eintrag durch meine Aktivität zustande, aber erzeugt wurde er vom Händler, und bei dem mussten auch irgendwelche Dinge geschehen, die ich nur indirekt beeinflussen kann. Man könnte auch sagen, dass der Verpacker im Lager des Buchhändlers, indem er den Barcode der Verpackung gescannt hat, den Eintrag erzeugt hat. Damit gehört diese Information nicht mehr im gleichen Sinne mir wie die Erinnerung in meinem Kopf oder die Datei auf meiner Festplatte. Wenn es für mein Vertrauen in diese Informationen, welches mich letztlich dazu bringt, etwas als mein sicheres Wissen anzusehen, wichtig ist, dass diese Informationen wirklich meine nur von mir erzeugten Aufzeichnungen sind, dann muss ich wenigstens den Eintrag im Kundenkonto des Online-Buchhändlers aus meinem Überzeugungsnetz ausschließen.

Man könnte einwenden, dass bei diesem Online-Buchhändler wahrscheinlich gar kein weiterer Mensch nach mir aktiv in den Informationsprozess eingegriffen hat, der schließlich zu der entsprechenden Zeile auf dem Bildschirm führt, auf dem ich mein Kundenkonto aufgerufen habe. Aber das macht die Sache noch komplizierter und genau genommen besorgniserregender. Erstens muss ich ehrlicherweise eingestehen, dass ich keine Ahnung habe, was alles wirklich passieren muss, damit diese Information auf meinem Bildschirm auftaucht. Ich habe natürlich auch keine Vorstellung davon, was dabei alles schiefgehen kann und wann womöglich eben doch andere Menschen eingreifen und Informationen so verändern, wie sie sie für zutreffend halten. Zweitens muss ich nun aber auch in jedem Falle die Zuverlässigkeit meines Links im sozialen Netzwerk in Zweifel ziehen, denn auch da habe ich keine Ahnung, was wirklich alles nötig ist und passieren muss, damit der Link dort auftaucht. Das Gleiche gilt natürlich genau genommen auch für die Speicherung der Datei auf meiner Festplatte, ich bin nicht einmal sicher, ob dieses Notebook noch eine Festplatte hat, ganz zu schweigen davon, dass ich nicht die Spur einer Vorstellung hätte, was genau passiert, wenn eine Datei mit einem Datum gespeichert wird.

Warum bin ich mir trotzdem recht sicher, dass ich diesen Blogartikel über Ludwig Wittgenstein eben vor zwei Jahren geschrieben haben muss, auch wenn ich keinerlei Erinnerung daran in meinem Kopf habe, und auch wenn mir nur Informationen aus den verschiedenen Teilen meiner Welt zur Verfügung stehen, die ich alle einzeln mit Recht bezweifeln kann? Weil es mir nicht möglich ist, alle diese Informationen gleichzeitig zu bezweifeln.

Meine Überzeugung ist nicht das mathematische Produkt aus Einzelinformationen, die jede für sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit falsch sein könnten. Meine Überzeugung ist das Netz aus diesen einzelnen Zusammenhangsfäden, und dieses Netz wird immer stärker, je mehr Fäden hineingeknüpft werden, unabhängig davon, wie dünn oder brüchig der einzelne Faden ist.