Wozu Meditation und Achtsamkeit – und wozu nicht?
Seite 2: Alte und neue Werte
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So kommen wir tatsächlich zur Ethik zurück, die, wie ich vorher schrieb, integraler Bestandteil der ursprünglichen Lehren war. Inwiefern die Werte von vor 1.500 bis 2.500 Jahren in der heutigen Zeit noch Gültigkeit haben, ist eine Diskussion für sich. Radikale Puristen wollen dann vielleicht ein Leben wie die damaligen Asketen führen. Das dürfte aber nicht mit dem Alltag der meisten Menschen - und auch schon nicht mit einem normalen Familienleben - vereinbar sein.
Immer nur Wasser aus der Badewanne zu schöpfen, damit sie nicht überläuft, kann lange Zeit gutgehen. Inwiefern man dann sein eigenes Leben lebt oder vielmehr von externen Einflüssen gelebt wird, kann man sich aber schon einmal fragen. Woher kommen meine Werte und Ziele? Und warum identifiziere ich mich mit ihnen?
Im Yoga übt man eher, den Geist zur Ruhe zu bringen (Shamata-Meditation). Deshalb schließt man hier meistens die Augen und schottet sich von den Sinneseindrücken ab (pratyāhāra). Beim Buddhismus geht es eher um Einsicht (Vipassana-Meditation). Die übt man meistens mit offenen Augen, um sie auch im Alltag anwenden zu können. Die Grenzen zwischen den Traditionen sind aber fließend und es gibt zahlreiche unterschiedliche Schulen.
Bei psychischen Problemen sollte man sich allerdings besser von einem guten Therapeuten begleiten lassen. Diesen Standpunkt vertritt auch Britta Hölzel in der Doku. Und Mark Epstein beschreibt, dass Menschen durch Meditation Ängstlichkeit erleben können. Das passiere vor allem dann, wenn jemand mit zu viel Eifer übe. Dieses Phänomen sei schon in mittelalterlichen Texten des tibetischen Buddhismus beschrieben.
Vermeidungsstrategien
Ich würde es psychologisch so erklären: Wir alle haben unsere Strategien (engl. coping), um unangenehmen Gefühlen auszuweichen, sei es nur Langeweile oder wirklich tiefere Trauer. Unsere Gewohnheiten geben uns Halt. Das kann förmlich alles sein: Arbeiten, Bienenzüchten, Computerspielen, Drogen, Gartenarbeit, Malen, Schreiben, Sex, Sport.
Zum Problem kann das werden, wenn wir dadurch Lebensprobleme auf Dauer nicht lösen oder gar vergrößern. Zum Beispiel, wenn man kaum noch aus dem Haus geht, weil man bei sozialen Interaktionen Enttäuschungen erlebt hat; oder immer mehr Alkohol trinkt, um Gefühle von Angst und Nervosität zu unterdrücken. Was eine Zeit lang gut funktioniert, um unangenehme Gedanken und Gefühle zu vermeiden, kann sich schließlich gegen uns kehren - und dann oft mit noch größerer Wucht.
Mit Meditation durchbricht man Gewohnheiten. Wenn es dann keine Stimme gibt, die einen durch die Übung leitet, oder noch nicht einmal entspannende Klänge im Hintergrund rieseln, kann das sehr konfrontierend sein. Zum Vergleich: Meditation fing für den Lehrer meiner ersten Yogalehrerausbildung in Indien überhaupt erst an, wenn man mindestens eine Stunde lang stillsitzen konnte. Das übten wir jeden Morgen ab 6 Uhr.
Wer sonst viel dafür tun muss, Gefühle oder Gedanken von Angst, Einsamkeit, Langeweile, Selbstabweisung, Trauer oder dergleichen mehr zu unterdrücken, hat dann keine Ablenkung mehr. Das Denken erfindet zwar schnell neue Geschichten und Tagträume. Es könnte aber schon sein, dass man sich erst einmal richtig schlecht fühlt, weil man sich der vorher verdrängten Vorgänge intensiv bewusst wird. In der Meditation ginge es dann darum, dies wie einen Kinofilm auf der Leinwand zu betrachten, ohne sich damit zu identifizieren.
Ich will nicht sagen, dass jeder Meditation auf diesem Niveau üben soll. Bei Kindern und Jugendlichen wird sogar ausdrücklich davon abgeraten: Diese sollen erst einmal eine stabile Persönlichkeit entwickeln, bevor sie gewissermaßen ihre "Programmierung" auseinandernehmen.
Transformierendes Potenzial
Meiner Meinung nach liegt hier aber der Schlüssel zum transformierenden Potenzial von Achtsamkeit (mit Andacht und urteilsfrei sein mit dem, was ist) und Meditation: Dass man sich eben nicht nur noch mehr Übungen auf die Agenda setzt, bis man auch die letzten freien Plätze zwischen den Terminen gefüllt hat. Sondern dass man beispielsweise die Termine loslässt, die man als unwesentlich erkennt. Ich arbeite ab 1. September auch wieder in Teilzeit.
Ein Zen-Meister soll einmal gesagt haben: "Meditiere jeden Tag eine halbe Stunde. Wenn du dafür keine Zeit hast, dann eine Stunde am Tag." Was auf den ersten Blick paradox klingen mag, kann man auch so verstehen: Wenn du trotz einer halben Stunde Meditation am Tag immer noch gestresst bist, dann musst du deinen Tag anders einrichten.
Mir ist klar, dass man damit in einer stressbasierten, leistungs- und karriereorientierten Gesellschaft wenig Punkte sammelt. Man wird wohl auch weniger Apps verkaufen und vielleicht auch nicht die hohen Kosten seiner Praxis im schicken München decken können. Aber das ist natürlich die Frage für jeden von uns: Was ist wirklich wesentlich im Leben?
Die indische Philosophie gibt hierauf klare Antworten. Ich finde, jede und jeder von uns muss sie sich selbst geben. Wer nur etwas mehr entspannen will: Prima, das geht mit den Übungen! Und wer sich vielleicht doch für mehr interessiert, der weiß jetzt, wo er weitersuchen kann.
Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.
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