Wozu Meditation und Achtsamkeit – und wozu nicht?

Das Gefühl, dass die Welt aus den Fugen gerät, steigert die Sehnsucht nach Harmonie. Bild: Pixabay License

Über den Hype um Buddhabilder, Klangschalen und Achtsamkeits-Apps

Ich war 20, als ich zum ersten Mal mit Meditation in Kontakt kam. Damals pflegte ich einen Querschnittsgelähmten, der so alt war wie ich heute (Anfang 40). Alle zwei Wochen bot er in einer evangelischen Kirchengemeinde Meditation an. Sie nannten es: Kontemplation.

Den Mann im Rollstuhl musste ich nicht nur mit dem umgebauten Kleinbus zur Kirche fahren. Weil er sich selbst kaum bewegen konnte, schlug ich auch die Klangschale. Und da saßen dann die Erwachsenen mittleren Alters in stiller Versenkung, während ich konzentriert auf die Uhr schaute. Meiner Erinnerung nach waren es vor allem Frauen. Einige Minuten später beendete ich die Runde, wieder mit der Klangschale.

Inzwischen sind Achtsamkeit und Meditation so populär geworden, dass sie kaum noch einer Erklärung bedürfen. Nach jahrelangem Selbststudium, mehreren Asienreisen und Yogalehrerausbildungen, will ich aber doch ein paar Gedanken zur Diskussion stellen. Die ursprünglich fernöstliche Praxis entwickelte bei uns im Westen nämlich ein Eigenleben.

Traditionen innerer Versenkung

Es gab und gibt zwar in vielen religiösen Strömungen Gruppen von Mystikern, die innere Versenkung übten. Denken wir an die jüdische Kabbalah, die christlichen Wüstenväter oder die islamischen Sufis. Doch seit dem 19. Jahrhundert bewundern wir in mehreren Wellen insbesondere die indischen Denkrichtungen: allen voran den Buddhismus, der in seinem Ursprungsland kaum noch praktiziert wird, und Yoga.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten, wäre hier müßig. Die heutigen Ländergrenzen gab es ohnehin nicht. Die Völker führten lebendigen Handel - oder tödliche Kriege. Beispielsweise eroberte der Makedonier Alexander der Große (4. Jh. v. Chr.) Teile Persiens und Indiens.

Historisch ist belegt, dass Alexanders Gefolge auf "Gymnosophisten" traf, nackte Weise. Das waren indische Asketen, vielleicht sogar Yogis. Der griechische Geschichtsschreiber Onesikritos berichtete, dass die unbekleideten Männer in der glühenden Sonne bestimmte Körperhaltungen einnahmen. Diese Praktiken zur Selbst- und Körperbeherrschung werden noch heute geübt, alternativ in eiskaltem Wasser oder Schnee.

Schließlich unterhielt man sich über Philosophie; heute würden wir vielleicht sagen: "Gott und die Welt". Wenn man nur lange genug zurückgeht, verschwimmen also die Grenzen zwischen Ost und West. Bleiben wir nun in der Gegenwart.

Teil des Ganzen

Wenigen dürfte bekannt sein, dass Achtsamkeit - oder genauer: rechte Achtsamkeit (Pali: sammā sati) - im Buddhismus nur ein Teil des "edlen achtgliedrigen Pfades" ist. In ähnlicher Weise ist Meditation (Sanskrit: dhyāna) nur ein Teil des bis heute von Yogalehrern auf aller Welt studierten "achtgliedrigen Pfads" des Weisen Patanjali.

Aus dem indischen Wort "dhyāna" wurde mit der Verbreitung der Lehre in China übrigens "chan", was man in Japan dann "zen" aussprach. Und so ist uns heute Zen-Meditation als (ursprünglich) buddhistische Meditationsform besonders bekannt.

Den achtgliedrigen Systemen ist gemeinsam, dass sie nicht nur auf Achtsamkeit oder Meditation Wert legen, sondern auch auf Selbststudium - beispielsweise der philosophischen Abhandlungen - und Ethik. Dahinter steht der Gedanke, ohne das nötige Wissen, die richtige Einstellung und den richtigen Lebenswandel, gelange man in der Meditation auch nicht zu tiefen Einsichten. Beim Yoga kamen spezifisch Atemübungen und Körperhaltungen dazu (prāṇāyāma und āsana), vor allem im Sitzen.

Wie man sich das vor 1500 bis 2500 Jahren vorstellte, ging es also nicht nur darum, eben mal abzuschalten, tiefer zu entspannen oder Stress abzubauen. Wir Menschen im 21. Jahrhundert haben aber natürlich jedes Recht, unsere eigenen Mittel und Ziele zu wählen. Woher die Techniken kommen und wozu sie ursprünglich gedacht waren - nämlich zur Überwindung des ewigen Kreislaufs von Verlangen und Leid -, sollte man aber wissen. Ich komme am Ende noch einmal darauf zurück.

Praktiken im 21. Jahrhundert

Das schmälert aber nicht den Beitrag von Achtsamkeit, Körperbewusstsein, Meditation und Yoga für die Gesundheit und ein besseres Leben. Dazu gibt es inzwischen viele tausend wissenschaftliche Studien.

Einer der Pioniere auf diesem Gebiet ist der heute 77-jährige emeritierte Medizinprofessor John Kabat-Zinn. Dieser promovierte in den 1960er und 1970er-Jahren am renommierten MIT in Molekularbiologie und kam dort erstmals in Kontakt mit Zen-Buddhismus. Später studierte er beim heute 94-jährigen vietnamesischen Zen-Meister Thich Nhat Hanh, von dem ich auch in Köln und im französischen Plum Village einzelne Unterrichtsstunden hatte.

Kabat-Zinn wurde mit seinem "Mindfulness-Based Stress Reduction" (MBSR) genannten Programm schließlich weltberühmt. Rund um die ganze Welt haben sich Meditationslehrer darin ausbilden lassen, um anderen Menschen (und wahrscheinlich auch sich selbst) zu helfen. MBSR erfüllt ein Bedürfnis, das eine rein molekularbiologische Medizin nicht befriedigen konnte.

Heute sind natürlich Apps fürs Smartphone "in". Der Bayerische Rundfunk widmete dem Thema "Weniger Stress durch Meditation? Meditieren mit der App" gerade eine halbstündige Doku. Darin führt der 38-jährige Moderator Sebastian Meinberg durch die beliebtesten Angebote und stört sich mitunter an "esoterischem" Gehabe: "Fühle dich wie ein Baum."

Stressiges Leben

Doch zunächst konstatiert er, dass er wirklich viel Stress hat. Es folgt eine Erklärung darüber, was das eigentlich ist. Ich sehe das ähnlich, dass kurzfristiger Stress den Menschen zu körperlichen und geistigen Leistungen anspornen kann.

Dauerhafter (chronischer) Stress kann aber, beispielsweise durch die permanente Ausschüttung von Hormonen wie Cortisol, gesundheitsschädigende Effekte haben. Gesundheitspsychologen weisen darauf hin, dass das vor allem dann zum Problem wird, wenn man diesen Stress auch noch als leidvoll erfährt.

Bloßes Umdeuten der Stresserfahrung nach dem Motto "Mache Stress zu deinem Freund", wie es etwa die Stanford-Gesundheitspsychologin Kelly McGonigal mit viel Erfolg propagiert, halte ich allerdings für etwas naiv. Wenn man dauerhaft zu viel Stress hat, sollte man diesen nicht nur psychologisch umdeuten, sondern vermeiden. Das Problem hat natürlich auch eine gesellschaftspolitische Komponente, wenn es beispielsweise um geregelte Arbeitszeiten geht.

Auch der Psychiater und Meditationslehrer Mark Epstein warnt davor, Achtsamkeitstraining bloß in irgendeine neue Form von Selbstverbesserung zu verwandeln ("Advice Not Given", 2018). Er sieht darin vielmehr einen Türöffner, seinen eigenen Körper und seine psychischen Vorgänge besser zu verstehen. Langfristig könne das dann zu tieferer Einsicht über einen selbst führen.

Der TV-Moderator Meinberg übt sich aber erst einmal im Körperbewusstsein. Atem- und Entspannungsübungen sollen den Stress reduzieren. Dafür bieten die Apps zahlreiche geführte Meditationen, für jeden Geschmack und viele Orte, zum Beispiel am Waldrand. Übrigens wurde mit dem Autogenen Training schon in den 1920er bis 1930er-Jahren aus der Hypnose heraus ein ähnliches Verfahren entwickelt, das weltanschauungsneutral sein sollte.

Nutze die kleinen Momente

Meinberg besucht für die Doku die Psychologin und Neurowissenschaftlerin Britta Hölzel, die in München das Institut für Achtsamkeit und Meditation gegründet hat. Früher forschte sie selbst zu den Auswirkungen der Techniken aufs Gehirn. Dem gestressten TV-Moderator empfiehlt sie zur Entspannung, die kleinen Momente im Alltag, beispielsweise die Zeit zwischen zwei Terminen, für Achtsamkeits- und Meditationsübungen zu nutzen (in der Doku ab ca. 15:30 Minuten).

Auch wenn sie zum Thema Glück wichtige und richtige Punkte anspricht - beispielsweise mit den Gedanken mehr im jetzigen Moment als in Vergangenheit oder Zukunft zu sein -, fehlt mir hier eine entscheidende Dimension: Stress nicht nur zu managen, sondern auch zu vermeiden. So überrascht mich das Fazit der Doku dann auch nicht: Meinberg habe zwar mehr über Entspannung gelernt, fühle sich aber immer noch gestresst.

Und das ist eben der Unterschied, auf den ich hinauswollte: Achtsamkeit und Meditation waren ursprünglich nicht nur zur Anpassung und Kompensation, sondern schließlich zur Transformation und Befreiung gedacht. Wer beispielsweise befürchtet, die Badewanne könnte überlaufen, der sollte nicht nur mit einem Behälter Wasser herausschöpfen. Irgendwann gilt es, den Wasserkran abzudrehen.

Nun leben wir natürlich in einer Zeit des Stresses (Deutsche wollen weniger Stress - doch wie?). Keinen zu haben, wirkt fast schon so, als gehöre man nicht zur Gesellschaft dazu. Durch fortschreitende Arbeitsverdichtung, Rationalisierung und in den nächsten Jahren auch den demographischen und Klimawandel dürfte der Druck auf uns weiter zunehmen. Dass heute Entspannungstechniken so populär geworden sind, ist wahrscheinlich bloß die andere Seite der Medaille unseres stressigen Zeitalters.

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