Zahnlos in der Urzeit
Soziale Gemeinschaften gab es schon vor 1,8 Millionen Jahren
In Georgien werden seit Jahren menschliche Vorfahren ausgegraben, die für viel Aufsehen sorgen. Die Untersuchung eines Schädels ergab jetzt, dass dieser Hominide schon Jahre vor seinem Tod keine Zähne mehr im Mund hatte. Das ist ein Hinweis auf eine soziale Gemeinschaft, die sich bereits vor 1,8 Millionen Jahren um einen Kranken oder Alten kümmerte.
Im Osten Georgiens, 85 km südlich von der Hauptstadt Tbilisi liegt Dmanisi. Hier werden seit 1936 die Überreste einer mittelalterlichen Stadt ausgegraben. Einst liefen hier die Karawanerouten aus Byzanz, Armenien und Persien zusammen. In den Kellergewölben der Ruinen stießen die Archäologen Anfang der 80er Jahre auf Tierknochen, die sich erstaunlicherweise als Fossilien unter anderem von Säbelzahntigern und Nashörnern aus dem frühen Pleistozän erwiesen.
Weitere Grabungen förderten dann eine echte wissenschaftliche Sensation ans Licht: Ein Unterkiefer-Bruchstück eines Vertreters der Gattung Homo, der vor 1,77 Millionen Jahren lebte und primitives Steinwerkzeug nutzte. Inzwischen sind mehr als 20 Fundstücke dieser frühen Menschen in Dmanisi geborgen worden, darunter drei Schädel und ebenso viele Unterkiefer. Die Dmanisi-Hominiden sind die ältesten Menschen, die je in Eurasien gefunden worden sind und sie stellen die gängigen Theorien über die Auswanderung des Homo aus Afrika in Frage.
Nirgends außerhalb Afrikas wurden derartig alte menschliche Knochen gefunden. Und die Dmanisi-Hominiden scheinen eher dem Typ des Homo ergaster zu entsprechen, als dem Homo erectus (vgl. Dmanisi hominids).
Spatzenhirn
Bis zur Entdeckung der frühen Menschen von Dmanisi waren die Paläoanthropologen davon ausgegangen, dass unsere Vorfahren erst aus Afrika auswanderten, als sie bereits größere Gehirne entwickelt hatten. Es herrschte die Vorstellung, dass Homo erectus sich auf den Weg machte, die Welt zu erobern. Aber die Schädel der ungefähr 1,5 m großen Dmanisi-Frühmenschen sind klein und im Vergleich zu ihren afrikanischen Zeitgenossen verblüffend grazil. Das Hirnvolumen war entsprechend relativ gering, es lag zwischen 0,6 und 0,8 Liter. Im Kopf eines klassischen Homo erectus gab es etwa einen Liter, der Homo sapiens hat 1,2 bis 2 Liter zu bieten (Ansicht eines Dmanisi-Schädels in 3D). Gegenüber dem National Geographic kommentierte Philip Rightmire von der Binghamton-Universität in New York die wissenschaftliche Sensation äußerst trocken:
Sieht aus, als hätten die ersten Menschen, die Afrika verließen, ein Spatzenhirn gehabt.
War das Eva?
Überleben mit nur einem Zahn
Jetzt berichtet ein internationales Team um den georgischen Paläoanthropologen David Lordkipanidze vom georgischen Staatsmuseum in Tbilisi in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsjournals Nature über den jüngsten Fund, einen Schädel mit der Bezeichnung D3444 und den dazu gehörenden Unterkiefer D3900. Es handelt sich um den ältesten bekannten Fall eines Hominiden mit stark geschädigtem Kauwerkzeug.
Alle Zähne des Oberkiefers hatte der Dmanisi-Hominid verloren, im Unterkiefer stand nur noch der linke Eckzahn. Genaue Untersuchungen der Knochen zeigten, dass der frühe Mensch viele Jahre vor seinem Tod bereits zahnlos geworden war, entweder aufgrund hohen Alters oder durch Krankheit. So oder so muss das Überleben ohne richtiges Kauen für ihn sehr schwierig gewesen sein. Er und seine Mitmenschen waren Fleischesser und das hat ihnen wohl vor allem im Winter die nötigen Nährstoffe verschafft ("Evolving to Eat Mush": How Meat Changed Our Bodies).
Der Besitzer des Schädels D3444 konnte kein zähes Fleisch mehr weich kauen, er ernährte sich wahrscheinlich von weichen Pflanzenteilen, vielleicht ergänzt durch proteinreiche Zusatzkost wie Knochenmark oder Hirn. Vermutlich unterstützten ihn die anderen Gruppenmitglieder, versorgten ihn mit, kauten vielleicht auch Speisen für ihn vor. Es könnte sich um den ersten Beweis menschlicher Anteilnahme, von Mitgefühl und fürsorglicher Pflege eines anderen Menschen handeln. Die Autoren schreiben:
Der einzelne, zahnlose Dmanisi wirft interessante Fragen bezüglich der sozialen Struktur, der Lebensgeschichte und der existenziellen Strategien früher Angehöriger der Gattung Homo auf, die weitere Untersuchungen erforderlich machen.