Zappen ohne Fernbedienung
Gedankenwolken: Tom Tykwer und die Wachowskis verfilmten den Kultbestseller "Cloud Atlas"
Texte wandern durch die Zeiten. Die Vermessung der Wolken produziert eine wolkige Vermessenheit des Kinos. Gepredigt wird ein weichgespülter Weltuntergang: Sie geht zwar unter die Zivilisation, aber weil alles rückwärts erzählt wird, wandern wir am Ende wieder im zwar ahnungsvollen, aber fortschrittsgläubigen 19. Jahrhundert des Charles Darwin. Das Ergebnis klingt wie "Sucker Punch" wirkt aber eher wie Glühwein - das Kino im Weihnachts-Markt.
Es gibt, soviel vorweg, in diesem Film auch viel Action. Es gibt überhaupt alles. Es gibt Liebe und Tod, Poesie und Pomp, Abenteuer und Andacht, Getöse und Geklimper...
Es gibt auch Längen, vor allem Anfang. Es gibt von allem etwas und nichts richtig, außer ein paar Lebensweisheiten, die nicht ganz falsch sind, aber vielleicht banal, und bei denen man sich zudem nicht ganz sicher sein kann, wie ernst sie überhaupt gemeint sind:
Unsere Welt folgt einer naturgegebenen Ordnung und wer versucht, sie umzukrempeln, dem wird es schlecht ergehen.
Cloud Atlas, die Verfilmung von David Mitchells Kultbestseller, mutet den Zuschauern viel zu. Denn, was sich im Roman auf 672 Seiten erstreckt, und damit dem Leser einige Zeit lässt, sich einzufinden, ist im Kino auf immerhin noch drei Stunden verdichtet.
Natürlich haben die Regisseure viel gekürzt, trotzdem ist der Grundaufbau des Buches übernommen: Sechs Geschichten, die in sechs Zeiten spielen, die durch lose Bezüge und subtile Verweise miteinander verbunden sind - ein faszinierender, aber schwerverdaulicher Brei aus Figuren und Motiven.
In knapper Zusammenfassung ist die Handlung folgende: Vor der Küste von Neuseeland wird um 1850 ein Seefahrer und Forscher langsam von einem Arzt an Bord eines Schiffes vergiftet, er hilft einem Maori und wird am Ende von ihm gerettet. 1931 liest ein Komponist dessen Tagebuch, plagiiert die Musik eines anderen und schreibt wiederum Briefe an einen Mann, der im dritten Erzählstrang, 1970, eine Journalistin über einen Nuklearskandal informiert, worauf die zunächst von Mördern bedroht wird, dann ihre Karriere aufbaut.
Um 2011 muss ein erfolgreicher Verleger, sich zunächst in einem Altersheim verstecken, dann aus diesem fliehen. In einer fernen Zukunft, ca. 2200, erkennt ein Klon, dass er kein Mensch ist. Im sechsten Erzählstrang trifft in einer fernen Zukunft nach dem Zusammenbruch der Zivilisationen ein primitiver Bewohner einer Pazifikinsel auf eine Anthropologin, die aus dem Teil der Welt stammt, der als einziger die Überreste der Menschheitskultur bewahrt hat.
So ein Plot scheint unverfilmbar, denn mag dies auch ein Bestseller sein, ist dies doch kein "Name der Rose", keine geradlinige Detektivstory. Doch mit den Wachowski-Geschwistern und Tom Tykwer hat sich ein Regie-Trio gefunden, das die Herzen höher schlagen lässt: Und die anfangs zögernden Geldgeber machten für "Cloud Atlas" rund 100 Millionen Dollar locker. Es handelt sich um den teuersten deutschen Film der Geschichte. "Matrix" trifft "Lola rennt" - so etwa dürfte man sich das in kühnen Träumen gedacht haben.
Und tatsächlich: Die Erzählstruktur von "Lola rennt" mit ihren Möglichkeitsreisen durch Zeit und Raum kann man in "Cloud Atlas" hineininterpretieren, und auch "Matrix" lässt grüßen: In den atemberaubenden Welten der beiden Zukunftsepisoden, die die spannendsten Passagen bilden, aber auch im paranoiden Grundton des Films und seiner esoterischen Grundierung: Überall wittert man Weltverschwörung, immer wieder werden dem Betrachter Lebensregeln aufgetischt.
Alle drei Filmemacher haben die selben Stärken und die gleichen Schwächen: Bildkräftig wird erzählt, und immer wenn sich "Cloud Atlas" auf visuelle Einfälle verlässt, ist der Film schön. Doch das Anstrengende an vielen Fantasy-Geschichten ist ja, wie ernst sie sich heutzutage nehmen, wie sehr sie den Humor einer "Alice im Wunderland" - zum Beispiel - vermissen lassen.
Auch der Einfall, alle Hauptfiguren von den gleichen Darstellern - Tom Hanks, Jim Broadbent, Halle Berry - spielen zu lassen, überzeugt, und passt zum Reinkarnationstopos. Ansonsten entfaltet der Film eine freundliche Mythologie, die vom Glauben an eine bessere Welt durchdrungen ist, wie vom apokalyptischen Glauben an den drohenden Weltuntergang durch Gier.
"Gestern führte mein Leben in eine Richtung. Heute führt es in eine andere"
Einmal sagt die Tom-Hanks-Figur: "Gestern führte mein Leben in eine Richtung. Heute führt es in eine andere." Ein bisschen geht es diesem Film genauso. Tolle Bilder gehen mit einer komplexen bis komplizierten Geschichte einher. Zusammenkleistert werden alle Einzelteile durch eine nervtötende Musiksoße.
So denkt man sich nach etwa 25 Minuten irgendwann, wenn der Film jetzt nicht bald losgeht, könne man auch gehen. Doch dann wird alles besser und klarer, aber immer, wenn eine Story interessant wird, bricht sie ab und es geht zur nächsten Geschichte - Zappen ohne Fernbedienung.
Phantastischen Bild-Einfällen stehen banale Gedankenwolken aus Déjà-Vues und Kreisen, die sich schließen, gegenüber, und man sollte gar nicht erst versuchen, alle Rätsel aufzulösen, ja nicht zuviel nachdenken: "Ich habe das Gefühl, es hat sich etwas Bedeutendes ereignet."
Bettelbriefe, Filmförderung und Kritik
Dieses Gefühl hat offenkundig auch die Produktion. Dort scheint nach dem schwachen US-Start die nackte Panik zu herrschen: In den letzten Wochen erreichten Kritiker Mails des Produzenten, gerichtet "an die Freunde des guten Films", die man als Bettelbriefe bezeichnen muss. Zuletzt folgender: "Heute Abend finden in vielen Kinos, die morgen CLOUD ATLAS starten, Previews statt. Und dann sei daran erinnert, dass der Mittwoch der ideale Tag ist, sich fürs Wochenende mit Freunden fürs Kino zu verabreden... Die verehrten Freunde Kinobetreiber haben meist Webseiten, auf denen man Karten vorbestellen oder sogar käuflich erwerben kann! Um beschwingt ins Kino zu gehen, veröffentlichen wir nun auch den vierten und letzten Teil der Making Of Reihe, heute zum Thema Action. Wenn dieses oder eines der anderen Making Of´s Euch gefällt, nutzt die social medias zur Verbreitung, oder leitet einfach diese Mail weiter."
Wir hatten ja durchaus Zweifel, wie denn das deutsche Feuilleton so reagieren wird. Aber der Produzent hatte heute einen schönen Sonnenaufgang in Köln und dann einen noch schöneren Flug nach Berlin mit folgenden Presseorganen: Peter Zander hat heute einmal mehr eine große, vor Superlativen nur so strotzende Hymne für die WELT KOMPAKT (Titel & Tagesthema!) & BERLINER MOPO verfasst: "der Klassiker von morgen" "der stärkste Film 2012" "CLOUD ATLAS ist keine solche Schnellware ...... Weil er einen hochkonzentrierten Zuschauer verlangt. Aber, diese These wagen wir jetzt mal mutig, dieser Film wird bleiben. Er wird reifen wie ein guter Wein. Weil er eben nicht so ein Fließbandprodukt ist., dass nur Massen ins Kino ziehen soll. Sondern ein klares Antiprogramm läuft wider all die Blockbuster und Fortsetzungen und Remakes und Comicadaptionen. CLOUD ATLAS ist der mutigste und stärkste Film des Jahres." ... Und auch die SZ schwärmt: "ein großartiges Filmepos". Die einzigen, die heute mit ihrer Kritik ausscheren, sind (erwartungsgemäß) die Nörgler von der TAZ... Heute am Kiosk erschienen daneben noch die BRIGITTE (Filmaufmacher), EMOTION (2 Seiten TT-Interview), ZITTY mit einer Seite positiver Kritik von Martin Schwarz. Der Vollständigkeit halber zu erwähnen: die positive Besprechung in den NÜRNBERGER NACHRICHTEN sowie gestern die ganz tolle Besprechungen in der RHEINISCHEN POST ("der kühnste Film des Jahres") & der WAZ ("ein großes Kino-Abenteuer") und die halbe Seite in der BILD über die grandiose Katy Karrenbauer, die gemeinsam mit Jim Sturgess in CLOUD ATLAS eine Berliner Kneipe zerlegt! Ich wünsche viel Vergnügen im Kino Eures Vertrauens, Beste Grüße, Stefan Arndt
Soviel zum Verhältnis deutscher Produzenten zur Filmkritik. Den "Nörgler" von der FAS hat er wohl nicht gelesen. Na gut. Viel Glück wünschen wir den netten Menschen, an den Erfolg glauben können wir nicht. Auch bei der Presse wird ein nur halb geglückter Film zum Event hochgejazzt, weil viele Fördergelder drinstecken, nicht weil es der Film verdient.
Die Zeitungen überbieten sich in Berichterstattung: sehr wohlwollend, ungemein umfangreich. In einer überregionalen Tageszeitung schreiben kluge Autoren nicht weniger als viermal über den Film. Warum eigentlich? Warum begleiten Filmkritiker den Start eines deutschen Films, in dem viel Geld steckt, anders, als den eines deutschen Films, in dem wenig Geld steckt? Was haben sie mit dem Film und seinem Verkaufserfolg zu schaffen? Warum werden andere deutsche Filme nicht so begleitet?
Was sind hundert Millionen Dollar für die Filmförderung? Wie viele Studentenfilme könnte man dafür machen? Wäre nicht mindestens einer genauso gut, und einer besser, interessanter innovativer, zukünftiger, als "Cloud Atlas"?
So bleibt ein sehenswerter, aber nicht durchweg guter Film. Ein Omnibus-Film, der in seinen sechs Episoden sechs Filme in einem zeigt, und von allem etwas bietet, aber sich für nichts entscheidet. Das Kino verändern wird "Cloud Atlas" bestimmt nicht.
Aber er ist ein interessantes Werk, weil er sehr zeitgemäß ist, weil er in seinen ständigen Perspektivwechseln, die Netzstrukturen unserer Wirklichkeit ebenso spiegelt, wie er die Aufmerksamkeitsdefizite vieler User/Zuschauer bedient, denn seine Struktur und Verwirrtheit und sogar sein ständiges Moralisieren und seine Esoterik haben sehr viel mit den digitalen Wolken zu tun, die unser gegenwärtiges Leben jenseits des Kinos prägen..
Unsere Leben gehören nicht uns. Wir sind verbunden mit anderen, in Vergangenheit und Gegenwart. Und mit jedem Verbrechen und jedem Akt der Güte erschaffen wir unsere Zukunft.