Zauberformel verzweifelt gesucht

Syriens Regime vor dem Kongress der Baath-Partei

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Als "vielleicht wichtigsten Indikator für die Zukunftsvision des syrischen Regimes" bezeichnet ihn die Washington Post, als "gigantisches Aufräumen mit den bekannten Köpfen der Baath-Partei" preist ihn Parteimitglied Ayman Abdelnour und "als Lachnummer" kommentiert ihn der Intellektuelle Ammar Abdulhamid. Einigkeit herrscht nur darüber: Der gestern eröffnete und bis Donnerstag anberaumte Kongress der Baath-Partei ist Syriens Gesprächsthema Nummer eins.

Von Europa weitgehend unbeachtet, sorgt der Nationale Kongress der Syrischen Baath-Partei in der Region seit Monaten für wachsende Spannung: Erstmals seit Bashar al-Assads Amtsantritt vor fünf Jahren versammelt sich die Partei wieder auf breiter Ebene, um – was zu machen? Eben das ist die große Frage.

Von der Aufhebung von Artikel 49 ist die Rede, der die Todesstrafe für alle Mitglieder der Muslimbruderschaft bedeuten kann. Zur Debatte stehen auch: Eine Amnestie für alle politisch Gefangenen, eine teilweise Veränderung des seit 1963 geltenden Notstandsgesetzes, eine Liberalisierung des Pressegesetzes und – die Abänderung von Paragraph 8 der Verfassung, der festschreibt, dass die "Sozialistische Arabische Baath Partei die führende Partei in Gesellschaft und Staat" ist. "Nie im Leben", winkt der Intellektuelle Ammar Abdulhamid ab. "Das wäre für die Diktatur politischer Selbstmord". Auch Marwan al-Kabalan, der junge Professor am Damaszener "Center for Strategic Studies", ist sich sicher, dass Paragraph 8 unangetastet bleibt, erklärt jedoch, dass die Baath-Partei im Falle freier Wahlen eigentlich nichts zu befürchten hätte: "Sie bekäme ca. 60 % der Stimmen. Erstens kennen die meisten nichts außer ihr, zweitens ist sie die einzig starke Organisation im Land." Das aber könnte sich mit der Zeit ja ändern, weswegen die Parteispitze an ihrer Konkurrenzlosigkeit vermutlich lieber gar nicht erst rüttelt.

Kein Hase mehr im Hut

Dabei büsste sie ihre selbst erklärte Existenzberechtigung, die panarabische Ideologie, schon vor geraumer Zeit ein. Über 40 Jahre lang verschaffte sie sich intern Luft, indem sie den moralischen Finger schwenkte und den gesamtarabischen Zusammenhalt beschwor. Noch heute genügt das Wort "Palästina", um das Volk mit National- und Schuldgefühlen zu lähmen. Doch die Konditionierung lässt nach. Immer ungenierter wird die Frage laut, was die Führung denn je konkret für Palästina und gegen USA und Israel unternommen habe. Zudem nagt der Vergleich mit den arabischen Brüdern: Alle legten den panarabischen Mantel ab, schlossen einen Diplomatie-Frieden mit Israel, stellten ihre Landesinteressen in den Vordergrund – und stehen weit besser da als das isolierte Syrien.

Den Rest schließlich gab die Welle aus Hohn und Hass, die die Syrer seit Frühjahr diesen Jahres aus dem Libanon überrollt. Statt dem angenommenen Dank für ihren (genuinen) Einsatz im libanesischen Bürgerkrieg erfahren sie "einen Chauvinismus, auf den nicht einmal die vorbereitetet waren, die seit Jahren für ein Ende der Besatzung plädieren", erklärt Abdulhamid – und fährt mit wenig ansteckendem Lachen fort:

Nationalstolz empfinden wir mittlerweile nur noch, wenn uns die Libanesen sagen, dass wir zur Hölle fahren sollen.

Hinzu kommen Massenarbeitslosigkeit, Inflation und der Dauerdruck durch die USA. Summa summarum türmt sich die Forderung auf, endlich Syrien voranzustellen, anstatt sich im panarabistischem anno dazumal aufzuhalten. Das aber verlangt der Führung einen neuen Schlachtruf ab, mit der sie ihr Volk in Schach halten kann. "Reformen" wäre die von allen ersehnte Antwort. Zu Syriens Führung scheint dies insofern vorgedrungen zu sein, als sie den Partei-Slogan von "Einigkeit, Freiheit und Sozialismus" in "Einigkeit, Demokratie und soziale Gleichheit" ummodeln will. Einigkeit immer hübsch voran.

Partner-Börse

Einigkeit vor allem mit dem Regime. Eine Öffnung der Parteienlandschaft, die ethnischen und konfessionellen Minderheiten die Formation ermöglicht, wird der bevorstehende Kongress daher kaum erbringen. Ayman Abdelnour, an sich reformwilliges Parteimitglied, deklariert sie gar als "inakzeptabel". Denn dies impliziere, so seine Stellungnahme gegenüber dem "Syrian Report", die Zulassung einer "kurdischen, armenischen, assyrischen, turkmenischen, tschetschenischen und arabischen" Partei. Und da nicht einmal Letztere existiere, sei es sinnvoller, wenn alle Gruppierungen vereint in der herrschenden Baath-Partei diskutierten. Es gelte lediglich, das "gemeinsame Diskussionsspektrum" auszuweiten. Ein Lavieren, das vor dem Hintergrund einer Diktatur allzu verständlich ist, aber keinen Wandel auslöst. Und da das Regime das weiß, sind ihm Kooperationen mit seinen innersyrischen Kritikern auch herzlich egal. Vor allem, wenn die verhalten und unorganisiert sind. Interessant sind da ganz andere Kreise.

Etwa die im Exil lebenden syrischen Muslimbrüder, mit denen das Regime bereits 2004 Gespräche führte. Und das nicht weil sie so martialisch, sondern weil sie, im Gegenteil, so moderat sind. Tatsächlich tauschte die Bruderschaft schon vor längerem ihr Gottesstaat-Gepoltere gegen politischen Pragmatismus ein. Gerade das macht sie zum ernstzunehmenden Gegner: Moderat gewordene Muslimbrüder, die ihrerseits Gespräche mit den USA führen, den Schulterschluss mit syrischen Oppositionellen suchen, die Abschaffung des Notstandsgesetzes und freie Wahlen fordern und obendrein ihre Hand dem syrischen Militär reichen, sind das Letzte, was die Diktatur jetzt gebrauchen kann. Führt dies doch eine weitere Formel, mit der sie sich jahrzehntelang über Wasser hielt, ad absurdum: "Im Falle freier Wahlen kommen die Extremisten."

Schreckgespenster überall

Die Gefahr eines religiösen Extremismus in Syrien wurde aber 1982 buchstäblich ausgemerzt, als Hafez al-Assad an die 20.000 Muslimbrüder, darunter fast mehrheitlich Unschuldige, in Hama töten ließ. Das größte Trauma der Arabischen Republik Syrien. Denn, so ein Journalist, der ungenannt bleiben will, "dem Volk führte es das Gewaltpotential dieses Regimes unmissverständlich vor Augen. Zugleich offenbarte das Regime das Ausmaß seiner Angst vor dem eigenen Volk."

Ein Trauma mit Langzeitfolgen für beide Seiten. So ist die Kopftuchinflation im Land als Massenprotest gegen die verhasste Diktatur zu verstehen und die überwältigende Mehrheit der syrischen Muslime inzwischen definitiv islamistisch. Aber deshalb nicht extremistisch und somit meilenweit von al-Qaida entfernt. Darin deckt sie sich mit den heutigen Muslimbrüdern. Worin sie sich sonst überschneiden, ist fraglich – immerhin leben die Muslimbrüder seit 23 Jahren im europäischen oder arabischen Exil, wohingegen die überwiegend junge syrische Bevölkerung weder Hama noch das Ausland erlebte. Inoffiziellen Schätzungen zufolge würden die Muslimbrüder in freien Wahlen lediglich 20-30% erhalten. Den Folgeschluss, dass sie angesichts dieses Identifikationsproblems keine allzu große Gefahrenquelle darstellen, zieht die Diktatur nicht. Schließlich würde so ihr Horrorszenario einer Machtergreifung durch angebliche Fanatiker obsolet.

Doch hinter vorgehaltener Hand wird noch einen weiteren Grund für das Schreckgespenst "Muslimbruder" genannt: Es wurzele in Hama. Das Regime habe einmal seine Angst gespürt und werde sie nicht mehr los. Also versucht das Regime zu beruhigen – vermutlich mehr sich selbst, als die Bruderschaft –, indem es ihr die Rückgabe ihrer 1982 konfiszierten Besitztümer ausmalt. Vor allem aber versucht es sich beim Volk lieb Kind zu machen. Vize-Präsident Abdul Halim Khaddams Aufruf zu einem Leben in größerer Einheit mit islamischen Gesetzen und Traditionen gilt daher den meisten nur als der krampfhafte Versuch, sich islamistischer als das eigene Volk zu geben. Denn auch das ist ein Opponent und trägt die Aufschrift "Schreckgespenst".

Nerven liegen blank

Wie man Gespenster am besten verscheucht, scheint dem Regime momentan unklar. Zumal angesichts des nahenden Kongresses, auf den auch die Augen der USA gerichtet sind. In den letzten Wochen jedenfalls hieß es eher Peitsche, denn Zuckerhut. So wurde der Journalist Ali Abdallah verhaftet, nachdem er am 7. Mai auf dem Jamal-al-Atassi-Forum einen Brief der syrischen Muslimbruderschaft aus London vorlas, in dem diese abermals ihre Gewaltablehnung bekräftigte und politische Reformen, inklusive Redefreiheit, forderte. Zwei Wochen später wurde der Menschenrechtsaktivist Muhammad Raadoun abgeführt. In einem Interview gegenüber Al-Jazeera hatte er auf das Schicksal des Muslimbruders Ahmad Ali al-Masalma hingewiesen: Nach jahrzehntelangem Exil war der im Januar nach Syrien eingereist und inhaftiert worden. Im April starb er an den Folgen von Folter und unterlassener medizinischer Versorgung. Vorerst wieder frei hingegen ist das achtköpfige Gremium des Jamal-al-Atassi-Forums, dem einzigen Diskussionsforum, das den Syrischen Frühling überlebt hatte. Die Verhaftung der "Atassi 8" und die Schließung des Salons am 24. Mai hatte in der Region und bei internationalen Menschenrechtsorganisationen für massive Proteste gesorgt.

Aus der Zauber?

Das und nur das sei der Grund für ihre Freilassung, so Abdulhamid:

Eigentlich wollte das Regime seine Muskeln spielen lassen, gerade in der gegenwärtigen Anspannung vor dem Kongress. Angesichts des internationalen Drucks kam aber nur eine weitere Demonstration seiner Unsicherheit – und Grausamkeit heraus.

Was die Reformergebnisse des Kongresses angeht, senkt er den Daumen: "Der Zauberhut hat keinen Boden mehr." Andere Oppositionelle nicken und schütteln gleichzeitig den Kopf: "Solange von außen nichts kommt, brauchen sie keinen Boden. Intern sind sie auch ohne stark."