Zielbild Marine 2035+: Aufrüstung nach Nato-Vorgaben
Seite 2: Die Lage
Begonnen wird im "Zielbild Marine 2035+" mit einem Kapitel "Die Lage", in dem die grundsätzlichen Prioritäten der Teilstreitkraft beschrieben werden. Die dem im Juni 2022 beschlossenen neuen Strategischen Konzept zu entnehmende Eskalation der Beziehungen zu Russland verändere "wesentliche Parameter" für die "langfristige Ausrichtung" der Marine.
Lange habe die Ausrichtung auf sogenannte Stabilisierungseinsätze im Globalen Süden Priorität oder zumindest Gleichrangigkeit gegenüber der Fähigkeit gehabt, im "hochintensiven Gefecht" (vor allem mit Russland) bestehen zu können.
Nun sei aber der "Auftrag zur Landes- und Bündnisverteidigung" (vor allem gegen Russland) "bestimmend", was sich auch auf die Teilstreitkräfteplanung des ZBM2035+ auswirke, die sich aus den "Vorgaben des Nato Force Model" ergeben würde.
Von den einstmals so vielbeschworenen "humanitären" Interventionen im Globalen Süden will man heute, da sich mit Russland ein völlig neues und ungleich größeres Rüstungsfeld auftut, auch in der Marine augenscheinlich nicht mehr viel wissen.
Konkret ergeben sich im Zielbild daraus folgende Prioritäten und regionalen Operationsschwerpunkte:
Gegenüber der Zielsetzung, in langandauernden Einsätzen niedriger Intensität durchgängig Marineeinheiten binden zu können, gewinnen andere Faktoren an Gewicht: Kriegstauglichkeit, Kaltstartfähigkeit, eingehende Kenntnis der wesentlichen Operationsräume Nordatlantik, Nord- und Ostsee sowie Präsenz ebenda bereits im Frieden. […]
Seekriegsmittel ausschließlich auf langandauernde Einsätze niedriger Intensität auszurichten, ist abzulehnen.
Zielbild Marine 2035 plus (ZMB2035+)
Mehrdimensionale Kriegsführung
Was die Einsatzdoktrin anbelangt, versteht sich das ZMB2035+ als konsequente Umsetzung der von den USA entwickelten "Multi Domain Operations" (MDOs). Dort wurde spätestens mit der Nationalen Sicherheitsstrategie von 2015 noch unter Präsident Barack Obama mit einer verstärkten Fokusverschiebung der Strategie- und Streitkräfteplanung hin zu Großmachtkriegen begonnen, die sich auch in den zentralen Dokumenten der Trump-Administration fortsetzte (wenn auch mit einem stärkeren China-Fokus).
Direkt aus der unter Trump veröffentlichten Nationalen Verteidigungsstrategie abgeleitet, wurde im Dezember 2018 mit dem Dokument The U.S. Army in Multi-Domain. Operations 2028 "ein neues Einsatzkonzept eingeführt, über das der Wissenschaftliche Dienst des US-Kongresses schreibt:
Im Dezember 2018 führte die Armee ihr operatives Konzept der Mehrebenen-Operationen (MDOs) ein. Laut der Armee wurden MDOs als Antwort auf die Nationale Verteidigungsstrategie aus dem Jahr 2018 entwickelt, die den bisherigen sicherheitspolitischen Fokus der USA von der weltweiten Bekämpfung gewalttätiger Extremisten hin zur Konfrontation mit revisionistischen Mächten verschob – vor allem mit Russland und China.
Congressional Research Service, 21.11.2022
Im Kern laufen die MDOs darauf hinaus, dass eine "optimale" Schlagkraft dann entfaltet werden kann, wenn teilstreitkräfteübergreifend alle Fähigkeiten vernetzt und mit hohem Tempo zum Einsatz gebracht werden können.
Zu diesem Ergebnis gelangt auch das ZBM2035+, das MDOs folgendermaßen definiert:
Die Marine […] fügt sich in Multi-Domain Operations (MDO) ein, also in eine Operationsführung, die Aktionen in den Dimensionen See, Land, Luft und Cyber orchestriert, mit nichtmilitärischen Maßnahmen synchronisiert und mit der erforderlichen Geschwindigkeit auf ein gemeinsames Ziel hin zusammenführt. Die Marine muss ihren Beitrag also bundeswehr- und bündnisgemeinsam sowie gesamtstaatlich vernetzt erbringen.
ZBM2035+
Insofern ist auch klar, dass der Datenerhebung und damit auch dem Einsatz Künstlicher Intelligenz dabei eine besondere Bedeutung beigemessen wird, was sich dann auch in der konkreten Streitkräfteplanung niederschlägt:
Dringendste Aufgabe ist ein hinreichendes und kontinuierlich geführtes Lagebild über alle Aktivitäten im eigenen Operationsraum unterstützt durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz.
ZBM2035+
"Quantität hat Qualität"
Auch wenn Nordatlantik und Nordsee ebenfalls aufgeführt werden, kristallisiert sich die Ostsee im Zielbild als klarer Schwerpunkt heraus. Die Fähigkeit zu "Abschreckung und Verteidigung" hänge primär von der "Verfügbarkeit von Kräften und Mitteln in ausreichendem Umfang" ab, was heiße: "Quantität hat eine eigene Qualität".
Dies alles erfordere ein "umfassendes Fähigkeitsprofil", das im ZBM2035+ dann auch mit konkreten Zahlen unterlegt wird.
Die wichtigsten Schiffseinheiten mitsamt Zielgrößen des Zielbilds wurden beim Fachportal Europäische Sicherheit & Technik folgendermaßen zusammengefasst:
Die Deutsche Marine geht in den Jahren nach 2035 offenbar einer Zielstruktur von 15 Fregatten, 6 bis 9 Korvetten, 6 bis 9 U-Booten, acht Seefernaufklärern, drei Flottendienstbooten, drei Flottentankern und sechs Unterstützungsplattformen entgegen […]
Bis zu 12 Minenabwehrplattformen sind als Nachfolge des Typs 332 vorgesehen..
Europäische Sicherheit & Technik, 6.3.2023
Bemerkenswert ist dabei zunächst einmal, dass, ganz den Anforderungen der MDO-Einsatzdoktrin entsprechend, fast alle Schiffstypen durch unbemannte KI-Plattformen "ergänzt" werden sollen – allerdings fehlen hier noch viele Details.
Den Minenabwehrplattformen soll eine "Unmanned MCM System bzw. Minenkampf-Toolbox" beiseitegestellt werden, deren Zahl sei aber "noch festzulegen". Sechs "Unmanned Aerial Systems" sind für die Poseidon-Seefernaufklärer vorgesehen und die 212CD-U-Boote sollen durch "bis zu 6" "Large Unmanned Underwater Vehicle" ergänzt werden.
Während sich bereits über diese erst noch anzuschaffenden Systeme wenig finden lässt, dünnt der Informationsfluss bei den als "Future Combat Surface System" bezeichneten Einheiten gänzlich aus.
Von ihnen sollen 18 Stück die Korvetten K130 – mittelgroße, wendige Schiffe, die für die "Randmeerkriegführung" in der Ostsee besonders "geeignet" sind – unterstützen, ohne dass auch militärnahe Expert:innen davon bislang größer etwas gehört hätten. Die Europäische Sicherheit und Technik spekuliert:
Zu ihrer [der Korvetten] Ergänzung sollen bis zu 18 Future Combat Surface Systeme (FCCS) eingeführt werden. Der Begriff wurde im vor der Jahrtausendwende für eine neue Fregattengeneration der Royal Navy eingeführt.
Im aktuellen Dokument wird zu ihnen nichts ausgeführt. Als schwer entdeckbare, flexibel einsetzbare Plattformen, die mit geringem Personalansatz und auch unbemannt zu betreiben sind, könnten sie zur Überwasserseekriegführung wie auch zur Wirkung an Land zur Verfügung stehen.
Europäische Sicherheit & Technik, 6.3.2023
F-127: "Maritime Keule"
Am Zielbild ist natürlich besonders "interessant", dass daraus abzulesen ist, wie sich die Marine aktuell die Zielgrößen bis 2031 und dann ab 2035 insbesondere bei den großen Schiffen vorstellt.
Besonders erwähnenswert, ist dabei die Reduzierung der für Einsätze im Globalen Süden vorgesehenen F-125 von vier (2031) auf drei (2035+) Einheiten bei einem gleichzeitigen Aufwuchs der künftigen "Königsklasse", der F-127, die von geplanten fünf (2031) auf sechs (2035+) leicht vergrößert werden soll. Während die aktuell im Bau befindliche F-126 vor allem für den "Seekrieg Unterwasser" gedacht ist, soll die F-127 auf "Seekrieg Überwasser inkl. Luftverteidigung" fokussieren.
In den Regionen, die potentiell von dem Milliardenauftrag profitieren dürften, geht es jetzt schon recht euphorischer zur Sache – gefertigt werden könnte das Schiff in Wismar, die Konstruktion würde dann in Kiel erfolgen, wo die Lokalpresse schreibt:
Das Projekt der Fregatte 127 soll der deutschen Marine zu neuer Stärke verhelfen. Der von ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS) vorgestellte Entwurf zeigt, wie eine Lösung aussehen könnte. Das Rennen um den Auftrag hat begonnen. […]
Die jetzt geplante Klasse 127 soll eine maritime Keule und Schutzschild gegen alles, was fliegt, werden - eine 12 000 Tonnen schwere schwimmende ‚Fliegenklatsche‘ zum Schutz des Luftraums an Nord- und Ostsee. Eine Aufgabe, die aktuell die großen US-Zerstörer in der Ostsee übernehmen.
Kieler Zeitung, 7.3.2023
Hier geht es um riesige Summen, bereits für das Vorgängermodell wurden rund 1,5 Mrd. Euro (die sich sicher noch erhöhen werden) pro Schiff veranschlagt, die F-127 dürfte sich noch einmal als deutlich teurer erweisen. Deswegen löste schon die Entscheidung, den Auftrag für den Bau der F-126 an die niederländische Damen-Werft zu vergeben, in der Branche regelrechte Schockwellen aus.
Das soll sich nicht noch einmal wiederholen, weshalb sich unter anderem ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS) bereits in Stellung bringt und am 6. März 2023 seinen F-127-Entwurf in Anwesenheit mehrerer SPD-Abgeordneter vorstellte.
Beim Besuch der SPD-Bundestagsabgeordneten Mathias Stein (Kiel) und Kristian Klinck (Plön) sowie der SPD-Landesvorsitzenden Serpil Midyatli und dem Landtagsabgeordneten Kai Dolgner stellte die Kieler Werft den Entwurf vor. […] Von den Abgeordneten gab es Unterstützung.
TKMS ist eine ganz wichtige Stütze für den Schiffbaustandort. Geld, das in die deutsche Marine investiert wird, ist gut investiert‘, so Kristian Klinck, der auch im Verteidigungsausschuss sitzt. Eine Entscheidung wie 2020 soll sich nicht wiederholen. Damals hatte der Bund den Auftrag zum Bau von vier Fregatten der Klasse 126 an den niederländischen Damen-Konzern vergeben.
Kieler Nachrichten, 7.3.2023
Aktuell ist noch recht unklar, wann eine endgültige Entscheidung über den Bau der F-127 gefällt wird – praktisch, wenn einen Tag vor dem Besuch der SPD-Abgeordneten mit dem ZBM2035+ ein Dokument ins Internet gelangt, das die Notwendigkeit des Schiffs betont.