Zu spät, zu langsam, zu bürokratisch: Das Briefwahl-Chaos und weitere Probleme

Kam mal an, mal nicht. Bild: M. Schuppich/ Shutterstock.com
Probleme bei der Bundestagswahl 2025. Experten kritisieren Chaos. Warum selbst der deutsche Botschafter protestierte. (Eine Spurensuche, Teil 1)
Jetzt soll alles ganz schnell gehen mit der Regierungsbildung. Vor allem nach dem Eklat von Washington sei – so fordern Medien in einer beachtlichen Einstimmigkeit – eine stabile neue Regierung notwendig. Der Blick zurück auf die Wahl stört da nur. Aber er ist nötig. Denn bei der Bundestagswahl am 23. Februar 2025 kam es zu massiven Problemen bei der Briefwahl für die über 200.000 Auslandsdeutschen – unter anderem.
Recherchen von NDR und Süddeutscher Zeitung zeigen, dass bei vielen Wählern die Briefwahlunterlagen zu spät oder gar nicht angekommen sind. Ursachen waren laut den Recherchen schlechte Vorbereitung der Kommunen, Nachlässigkeiten und Planungsfehler. So wurden Stimmzettel teilweise erst mit erheblicher Verzögerung gedruckt und per langsamer Versandart über Umwege verschickt. Jeder Tag zählte, doch manche Städte gaben die Unterlagen erst kurz vor knapp auf den Weg.
Debatte um Briefwahl
Die Briefwahl außerhalb Europas gestaltete sich besonders schwierig. Wahlbriefe nach Übersee brauchten oft zwei bis drei Wochen. Sonderkuriere der Botschaften konnten nicht mehr helfen, da die Stimmzettel schon zu spät eintrafen. Manche Wähler beauftragten in ihrer Not teure private Kurierdienste – auch das oft vergeblich. Andere gaben ihre Stimme kurzerhand Bekannten mit, die zurück nach Deutschland flogen. Letztlich wurden unfreiwillig viele Auslandsdeutsche zu Nichtwählern.
Dabei hatte es schon bei der Bundestagswahl 2021 Pannen gegeben, aber in deutlich kleinerem Ausmaß. Wegen einer Bombenentschärfung in Wuppertal mussten einige Wähler in Zelten abstimmen. In einem Wahllokal wurden falsche Stimmzettel ausgegeben.
Lesen Sie auch
Worüber im Bundestagswahlkampf gesprochen wurde und worüber nicht
Allianz der "ethnischen Säuberung"?
Sondierungspapier: Massive Investitionen in Verteidigung und Infrastruktur geplant
Zweierlei Maß? Union kritisiert NGOs, fördert eigene Stiftungen
Mit Täuschung zum Triumph: Die Wahlergebnisse 2025 im Check
Berlin erwies sich mal wieder als Hauptstadt der Pannen mit langen Schlangen, fehlenden Stimmzetteln und verspäteter Auszählung. Ärger gab es auch um eine Änderung der Bundeswahlordnung, die Auszählungen in kleinen Wahllokalen erschwerte. Insgesamt blieben die Probleme aber überschaubar und örtlich begrenzt.
2025 gab es dagegen systematische Schwierigkeiten bei der Auslandsbriefwahl, die wesentlich mehr Wähler betrafen. Selbstkritisch räumen Landeswahlleiter nun ein, dass man die Vorbereitungen wohl unterschätzt und Abläufe optimieren müsse. Diskutiert werden Reformen wie mehr Briefwahllokale in Botschaften und Konsulaten. Verfassungsrechtlich umstritten bleibt die Forderung nach einer Online-Wahl für Deutsche im Ausland.
Gefahren drohen nur von außen?
Weitaus wichtiger als die hausgemachten Demokratieprobleme scheinen für die Behörden die mutmaßlich gestiegenen Gefahren von außen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hatte bereits im Vorfeld vor möglichen Versuchen der Wahleinflussnahme durch andere Staaten gewarnt – durch Desinformation, Cyberangriffe oder Sabotage.
Tatsächlich wurden im Wahlkampf Falschmeldungen zum Privatleben einzelner Politiker in sozialen Medien gestreut. Eine zentrale Stelle der Bundesregierung beobachtet jetzt ausländische Einfluss- und Manipulationskampagnen. An anderer Stelle war die Einrichtung eines solchen neuen Gremiums verweigert worden – Telepolis wird darauf in einem weiteren Beitrag zu den Unregelmäßigkeiten der Bundestagswahl 2025 eingehen.
Das BSW-Ergebnis
Bei der Bundestagswahl am Sonntag verpasste das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) mit 4,972 Prozent der Wählerstimmen nur knapp den Einzug in den Bundestag. Wie die Parteivorsitzenden Sahra Wagenknecht und Amira Mohamed Ali in Berlin ankündigten, erwägt die Partei daher eine juristische Überprüfung des Wahlergebnisses.
Wagenknecht begründete dies mit den über 200.000 deutschen Wahlberechtigten im Ausland, von denen viele wegen der kurzen Fristen vor der vorgezogenen Wahl ihre Stimme nicht abgeben konnten. "Angesichts des sehr knappen Wahlergebnisses, bei dem dem BSW lediglich 13.400 Stimmen zum Einzug in den Bundestag gefehlt hätten, stellt sich schon die Frage nach dem rechtlichen Bestand des Wahlergebnisses", sagte Wagenknecht laut dpa.
Expertinnen sehen keine großen Chancen für das BSW
Die Verfassungsrechtlerin Roya Sangi schätzt laut Legal Tribune Online (LTO) die Voraussetzungen für eine Nachprüfung der Wahl als begrenzt ein. Diese sei nur noch im Rahmen des sogenannten Wahlprüfungsverfahrens durch Einspruchsberechtigte möglich. "Ein bloßer Hinweis auf ein knappes Wahlresultat ist nicht ausreichend, um im Rahmen des Wahlprüfungsverfahrens eine Nachzählung anzuordnen und durchzuführen. Hierfür bedarf es einer substantiierten Darlegung eines konkreten Wahlfehlers", so Sangi.
Auch die Parteienrechtlerin Sophie Schönberger hält laut Zeit Online eine erfolgreiche Wahlanfechtung aufgrund der erschwerten Wahl für Auslandsdeutsche für unwahrscheinlich. Es gebe keinen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Briefwahl. "Jede Wählerin, jeder Wähler kann ja wählen, auch die im Ausland. Ich habe nur keinen Anspruch darauf, auf dem bequemsten Weg zu wählen", so Schönberger.
Kritik von Demokratieverein
Unterdessen kritisierte die Bürgerrechtsorganisation Mehr Demokratie in einer Pressemitteilung, dass trotz der hohen Wahlbeteiligung mehr als 6,8 Millionen Wählerstimmen nicht im neuen Bundestag vertreten seien. Darunter seien vorwiegend die Wähler von FDP und BSW, die den Einzug knapp verpasst haben.
"Für diese Wählerinnen und Wähler überwiegt nach der Wahl der Frust. In Zeiten, in denen die repräsentative Demokratie immer wieder unter Druck steht, ist es wichtig, dass das Parlament wirklich alle Stimmen vertritt", erklärte Claudine Nierth, Bundesvorstandssprecherin von Mehr Demokratie. Die Organisation fordert eine Absenkung der Fünf-Prozent-Hürde, um die Repräsentanz im Bundestag zu verbessern.
Kritik und Selbstkritik beim BSW
Lauteste Stimme unter den Kritikern ist nun aber das BSW. Dort schießt man die Reihen und sieht sich von Feinden umgeben; auch eine Art, die Enttäuschung über den knapp verpassten Einzug in den Bundestag zu verarbeiten.
Für Selbstkritik ist da wenig Platz. Die bald arbeitssuchende Abgeordnete Sevim Dağdelen kritisierte im Interview mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg, dass "die Medien" ihre Partei boykottiert hätten, ohne sich in diesem Moment des Widerspruchs offenbar bewusst zu sein; sie sagte dies just in einem Interview mit einem "dieser" Medien.
Fehler der neuen Partei
Fakt ist: Die Partei ist zu schnell aufgebaut worden, es gab zu wenig Strukturen für den Wahlkampf und zu viel Widersprüche in einer Situation, in der sich das BSW einerseits als Antisystemkraft inszeniert und unterseits unmittelbar nach Gründung in Regionalregierungen eintrat. All das wird intern kritisch bewertet, nach außen gilt eine Wagenburgmentalität.
Und doch wird die Diskussion über die strukturellen Probleme der Bundestagswahl 2025 zu führen sein – im Notfall auch gegen Regierung und Behörden. Kritiker können darauf verweisen, dass selbst der deutsche Botschafter in London, Miguel Berger, ein Wutposting auf X veröffentlichte:
Keine Wahlunterlagen bei mir in London angekommen! Bei der Bundestagswahl können viele Deutsche im Ausland ihr Wahlrecht nicht ausüben. Fristen wurden zu knapp kalkuliert, die Verfahren sind zu bürokratisch. Eine Reform ist dringend notwendig.
Kritik von Verfassungsrechtler Papier
Hans-Jürgen Papier, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, äußert sich in der Berliner Zeitung zu den verfassungsrechtlichen Problemen bei der Bundestagswahl 2025, insbesondere im Hinblick auf die Wahlteilnahme von Auslandsdeutschen.
Papier betont, dass das Wahlrecht allen Staatsbürgern offenstehen muss und verweist darauf, dass die Wahl der Auslandsdeutschen verfassungsrechtlich problematisch sei, wenn diese ihr Wahlrecht nicht effektiv ausüben können.
Verfassungsrechtler sieht Verfehlungen
Obwohl die Fristen für Neuwahlen im Grundgesetz verankert sind, kritisiert Papier, dass das Wahlverfahren für Auslandsdeutsche nicht rechtzeitig angepasst wurde. Die Frage, ob Wahlfehler relevant sind, hängt davon ab, ob sie das Wahlergebnis beeinflussen könnten. Angesichts der wenigen fehlenden Stimmen für das BSW ist dies theoretisch möglich, so Papier. Derzeit sei jedoch unklar, ob die Wahlfehler tatsächlich die Sitzverteilung beeinflusst haben.
Ein weiteres Problem sieht Papier im Verfahren der Wahlprüfung, das zunächst in der Zuständigkeit des Bundestages liegt. Diese Regelung sei verfassungsrechtlich unbefriedigend, da der Bundestag in eigener Sache entscheidet, und erst danach eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht möglich ist. Dies verzögert zeitnahe Entscheidungen. Papier fordert daher eine Reform der Wahlprüfungsverfahren.
Das EU-Ausland ist weiter
Darüber, ob das Bündnis Sahra Wagenknecht mit seinen Einwänden gegen die Korrektheit der Wahlen recht hat, müssen deutsche Gerichte entscheiden. Im europäischen Ausland könnte das BSW dagegen in zahlreichen Staaten auf vorhandene Gesetze zurückgreifen.
Noch am Tag vor den Wahlen wurden Umfragen veröffentlicht. Am 21. Februar eine Forsa-Umfrage, bei der das BSW auf drei Prozent herabgesetzt war und am 22. Februar eine weitere von INSA mit dem BSW bei fünf Prozent.
Genau dies ist in vielen EU-Staaten verboten. Griechenland verbietet die Veröffentlichung von Umfragen am Vortag der Wahl. Auch politische Veranstaltungen dürfen nicht stattfinden. Den Wählern soll die Ruhe gelassen werden, sich für eine der Parteien und den favorisierten Parlamentskandidaten zu entscheiden.
In Zypern sind Umfragen sogar in der gesamten letzten Woche vor den Wahlen verboten. Niemand in diesen Ländern zweifelt die Begründung des Verbots, nämlich die Beeinflussung von Wählern durch Umfrageergebnisse an. Niemand käme auf die Idee, dies als Verschwörungstheorie zu bezeichnen. Denn die Verbote sind genauso begründet.
Tatsächlich werden in Griechenland auch die Innenminister vor Wahlen durch Technokraten ohne Parteibindung ersetzt. Denn formal unterstehen die Wahlämter dem Innenministerium, womit theoretisch eine Einflussnahme eines parteipolitisch geprägten Ministers möglich wäre.
Neun der 27 Mitgliedstaaten der EU verhängen keine Beschränkungen für die Redezeit der Kandidaten in den Medien oder für ihre Kommentare zu Wahlen kurz vor, oder am Wahltag: Österreich, Belgien, Dänemark, Estland, Finnland, Deutschland, Litauen, die Niederlande und Schweden. In den übrigen EU-Staaten wird sehr darauf geachtet, die Bürger kurz vor den Wahlen möglichst in Ruhe zu lassen. In Irland wird das Verbot nicht durch ein "Wahlgesetz" als geregelt, vielmehr ist in den Richtlinien der Rundfunkbehörde eine Sendepause für politische Inhalte für den Tag vor den Wahlen vorgeschrieben.
In Frankreich ist es hochrangigen Amtsträgern wie Ministern oder anderen Staatsbediensteten in einer "période de réserve" verboten, eine Woche vor den Wahlen ihre Meinung zu äußern oder Erklärungen abzugeben, wobei bestimmte Ausnahmen gelten. Den Kandidaten wiederum ist es gestattet, bis Samstagmittag Wahlkampf zu betreiben.
Am 8. und 9. Juni 2024 wählten die Italiener die 76 Abgeordneten des Europaparlaments. Ihr Gleichbehandlungsgesetz untersagte die Veröffentlichung der Umfrageergebnisse zwei Wochen vor den Wahlen, beginnend am 25. Mai. Alle Fernseh-, Radio- und Onlinemedien mussten ab Mitternacht des 6. Juni eine totale Informationssperre bezüglich der Wahlen einhalten.
In Portugal dürfen Umfragen, Kandidatenerklärungen und alle wahlbezogenen Inhalte ab "Mitternacht des zweiten Tages vor dem für die Wahl festgelegten Tag" von keinem Medienunternehmen mehr verbreitet werden. In der Slowakei gilt Ähnliches, zwei Tage vor den Wahlen ist es allen Medien verboten, "Informationen über Kandidaten, politische Parteien oder Koalitionen für oder gegen sie in Wort, Schrift, Ton oder Bild zu senden oder zu veröffentlichen".
In Kroatien, Frankreich, Irland, Lettland, Malta, Polen, Portugal und Rumänien müssen die Medien am letzten Tag vor den Wahlen zur Parteipolitik schweigen. In Bulgarien, der Tschechische Republik, Ungarn, Luxemburg und Slowenien gelten Verbote für die Veröffentlichung von Umfragen.
Schließlich noch ein paar Worte zu den Briefwahlen für Auslandswähler. Hier ergab sich in Deutschland ein sehr seltsames Bild. Jede Kommune entschied in Eigenregie, welchen Dienstleister sie wählte und wann sie die Wahlunterlagen in den Versand gab.
Darüber, ob Auslandsdeutsche pünktlich die Wahlunterlagen, und damit das Recht zur Wahl, bekamen, entschied der letzte Wohnort in Deutschland. Griechenland, das 2024 zu den Europawahlen zum ersten Mal die Briefwahl ermöglichte, hatte den Versand zentral organisiert und konnte damit für alle Wähler gleiche Bedingungen bieten.
Mitarbeit: Wassilis Aswestopoulos