Zur Causa Handke: Wenn Journalisten Geschichte schreiben wollen
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Kein Platz für Aber-Sager: Die Debatte um Peter Handke und den Jugoslawien-Krieg ist zu einem Glaubenskampf verkommen
Nun hat Peter Handke also den Nobelpreis für Literatur bekommen. Was die einen freut, regt die anderen auf. Wochenlang tobte der Meinungskampf, der übrigens seit 1996 regelmäßig wieder aufflammt, wenn Handke einen Literaturpreis bekommt.
Damals hatte der Schriftsteller nach seiner Serbien-Reise das Buch "Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina" veröffentlicht, und damit im Feuilleton das ausgelöst, was man heute in den sozialen Netzwerken einen Shitstorm nennt. Schon damals hatte sich gezeigt, was im Kontext der Nobelpreisverleihung erneut sichtbar wurde: tertium non datur.
Mit wenigen Ausnahmen fanden und finden sich in der massenmedialen Aufregung um Handke und Jugoslawien, unterfüttert durch Verkürzungen und losgelöst von der Beschäftigung mit Primärwerken, nur noch zwei Positionen. Man ist entweder für oder gegen Peter Handke. Ein "Aber" existiert nicht mehr.
Denn wer "aber" sagt, relativiere die Verbrechen, relativiere das Leid und verhöhne die Opfer, sagen die Kritiker. "Peter Handke leugnet den Genozid von Srebrenica." "Nein, aber er rückt ihn in den Kontext des Krieges." "Er verhöhnt die Opfer." "Nein, aber es gab Opfer auf allen Seiten." "Handke relativiert die serbischen Verbrechen." "Nein, aber es gab auch kroatische und bosnisch-muslimische Kriegsverbrecher."
Wer in der Handke-Debatte versucht, so zu argumentieren, hat bereits verloren. Denn das "Aber" ist, darauf weisen Kritiker zu Recht hin, ein Zugang, dessen sich auch Holocaust-Leugner bedienen. "Die Nationalsozialisten haben sechs Millionen Juden umgebracht." "Aber die Alliierten haben auch Verbrechen begangen, zum Beispiel durch die Bombardierung Dresdens." Die unterstellte Behauptung: Beide Seiten haben Verbrechen begangen, also sind auch beide schuldig, am liebsten gleichwertig.
Am Beispiel des Zweiten Weltkriegs kann man sehen, wie absurd diese Unterstellungen sind, wie verkürzt und damit unlogisch diese vermeintliche Logik auftritt. Kein Verbrechen einer Seite kann ein anderes relativieren, solange man sachlich und nüchtern die Fakten festhält.
Fakten statt Emotionen
Doch weil Letzteres viel zu wenig geschieht, steckt die Handke-Debatte in einer Sackgasse, aus der sie vermutlich so rasch nicht mehr herauskommen wird. Denn der Zugang zum Thema ist von beiden Seiten fast nur noch darauf beschränkt, die eigene Position als richtige und die gegnerische als falsche zu charakterisieren. Das ist die Schwarz-Weiß-Logik einer Debatte, die zum Glaubenskampf verkommen ist.
Ein beliebtes Muster ist hier, Täter und Opfer ethnisch zu definieren. Dadurch erreicht die Seite, welche die meisten Opfer aufzuweisen hat, pauschalen Opferstatus, während die Gegenseite als Tätervolk definiert wird.
Dabei zeigten die Fakten, dass Menschen aller Ethnien Täter und Opfer in den Jugoslawien-Kriegen wurden. Rund zwei Drittel (64.036) der 97.207 Getöteten im Bosnien-Krieg waren Muslime, zirka ein Viertel (24.905) waren Serben und acht Prozent (7.788) waren Kroaten. Im Kosovo-Krieg waren die meisten Opfer Albaner (10.527), proportional zum Bevölkerungsanteil starben ähnlich viele Serben (2.170) sowie Angehörige anderer Minderheiten. Über serbische Opfer zu sprechen, relativiert nicht das Leid auch nur eines einzigen Angehörigen der über 8.000 Toten des Genozids von Srebrenica.
Dass Peter Handke allerdings seine Stimme den serbischen Opfern und nicht grundsätzlich allen vom Krieg betroffenen Menschen geliehen hat, kann man zu Recht kritisieren. Dass er 1996 im bosnischen Pale Radovan Karadžić getroffen hat, wird ihm ebenfalls vorgeworfen. Dass er dem politischen Leader der bosnischen Serben damals eine Liste mit vermissten Muslimen überreicht hat, wird hingegen oft übersehen, auch wenn seine Haltung von einer gewissen politischen Naivität geprägt war.
Die Handke-Debatte und die Rolle der Geschichtswissenschaft
Die Geschichtswissenschaft beschäftigt sich einerseits damit, Vergangenheit zu rekonstruieren, und andererseits damit, vorherrschende Interpretationen, sogenannte Masternarrative, zu dekonstruieren. Denn auch wenn eine Erzählung auf Fakten basiert, kann sie nicht den Anspruch erheben, die Vergangenheit vollumfänglich zu erklären.
Das bedeutet nicht, dass das Gegennarrativ an die Stelle der Meistererzählung tritt. Wäre dies so, würde es erneut hinterfragt und dekonstruiert. Deshalb ist das in der Handke-Debatte sichtbare Beharren vieler Diskursteilnehmer auf den einzigen, den "wahren" Standpunkt, ein Zeichen dafür, dass Ideologie und Glaube an die Stelle von Erkenntnissuche getreten sind.
Würde die Wissenschaft so arbeiten, gäbe es schon längst keine neuen Erkenntnisse z. B. zur römischen Geschichte mehr. Wissenschaft verkäme zur Ideologie. Doch genau dahin führt die aktuelle Aufregung um den Nobelpreis.
Der Literaturwissenschaftler Christoph Deupmann hat seinem Aufsatz über die Wahrnehmung von Peter Handkes Werken im zeithistorischen Kontext der Jugoslawien-Kriege schon 2008 den Titel gegeben "Die Unmöglichkeit des Dritten". Anstatt in Schwarz-Weiß-Mustern zu debattieren und Meinungen, schlimmer noch, Menschen in zwei Lager zu spalten, sollten wir etwas Emotion aus der Diskussion herausnehmen und das Ganze mit mehr Distanz betrachten.
Dazu können die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung mehr beitragen als bloße Standpunktverkündigungen. Ich habe als Wissenschaftler nicht nur die Handke-Debatte, sondern auch die Medienberichterstattung über die jugoslawischen Zerfallskriege seit nun 20 Jahren erforscht.
Dass Peter Handke kritisiert, "dass Journalisten meinen, Geschichte schreiben zu dürfen", ist nachvollziehbar. Denn die Aufarbeitung von Vergangenheit muss auf einer möglichst vorurteilsfreien Herangehensweise basieren und sich einer geübten wissenschaftlichen Methodik bedienen. Dazu sind die Historiker am besten ausgebildet, darin sind sie geübt.
Das heißt nicht, dass gute Journalisten, die analytisch und differenziert an einen Konflikt herangehen, nicht ebenfalls Wesentliches zur Erkenntnissuche beisteuern können. Aber wer wie z. B. Peter Maass im Online-Portal The Intercept sein eigenes Bild zum Geschichtsbild erheben will, kann kaum etwas zur Wahrheitssuche beitragen.
Wenn Journalisten Geschichte schreiben wollen
Ich spreche hier auch aus persönlicher Erfahrung: Im Oktober 2019 hat mich Peter Maass kontaktiert und wollte von mir Informationen zur Handke-Debatte, weil mein Buch "Peter Handke und Gerechtigkeit für Serbien" vom Akademie-Mitglied Eric M. Runesson neben anderen Publikationen im Kontext der Preisvergabe erwähnt worden war. In der Annahme, dass The Intercept ein seriöses Medium und Peter Maass an der Wahrheitsfindung zu Handke und Jugoslawien interessiert sei, habe ich in mehreren E-Mails auf alle seine Fragen geantwortet.
Ich habe ihm auf seine Bitte hin meine Forschungsergebnisse, die nur auf Deutsch vorliegen, auf insgesamt elf Seiten in englischer Sprache zusammengefasst. Und ich habe ihm Dutzende Quellen und Darstellungen renommierter deutschsprachiger Wissenschaftler aus den Bereichen der Politikwissenschaft, der Medienwissenschaft und der Friedensforschung geschickt.
Keine einzige dieser Quellen hat Maass schlussendlich in seinem Artikel berücksichtigt. Stattdessen hat er sich auf zweieinhalb Seiten meines Buchs - das insgesamt 212 Seiten lang ist - bezogen, die er laut eigener Angabe mithilfe Künstlicher Intelligenz übersetzt hat.
Darin geht es um die PR-Agentur Ruder Finn, welche für die bosnisch-muslimische und für die kroatische Seite gearbeitet hat (jede Kriegsseite bediente sich solcher Agenturen). Die Agentur Ruder Finn arbeitete an einem Wording, das Serben mit Nazis verglich. Das war im Interesse ihrer Auftraggeber.
Der Solinger Professor Jörg Becker, der lange an der Universität Innsbruck gelehrt hat, hat diese Arbeit von Ruder Finn anhand der im United States Department of Justice archivierten FARA-Unterlagen (Foreign Agents Registration Act) dokumentiert und dazu publiziert, und darauf beziehe ich mich.