Zur Causa Handke: Wenn Journalisten Geschichte schreiben wollen

Seite 2: The Intercept - Handke-Berichterstattung mit Schlagseite

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Peter Maass hingegen meinte, darin eine Verschwörungstheorie zu erkennen, und baute seinen Artikel darauf auf, ohne zu merken, dass seine Kernthese selbst verschwörungstheoretische Züge trägt. Er behauptet nämlich, die Schwedische Akademie habe Handke den Nobelpreis verliehen, nachdem zwei Juroren auf eine Verschwörungstheorie hereingefallen seien.

Maass schreibt weiter, dass er bis dahin nie von besagter PR-Agentur Ruder Finn gehört habe. Das ist sehr verwunderlich für einen Journalisten, der während der Kriege in Jugoslawien war, denn über Ruder Finn wurde bereits 1992 im Independent berichtet, und seitdem wurde die Agentur auch in US-amerikanischen Forschungen wiederholt erwähnt.

Doch darum geht es Maass nicht. Wenn man die Artikel anschaut, die er zwischen 10. Oktober und 11. Dezember unter der Rubrik "A Prize for Lies" auf The Intercept veröffentlicht hat, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er "mit einer gewissen Besessenheit" (Süddeutsche Zeitung) an der Handke-Thematik arbeitete und es ihm weniger um Wahrheitsfindung als um eine publizistische Intervention ging. Als seinen Antrieb dafür gibt er die Angst an, dass die Geschichte des Jugoslawienkrieges umgeschrieben werden könnte.

Damit ist Maass die idealtypische Figur jener Journalistengattung, die Handke dezidiert ablehnt, weil sie definieren will, was Geschichte ist und was nicht. Das Aufeinandertreffen der beiden im Rahmen der Pressekonferenz in Stockholm am 6. Dezember hat diese Unvereinbarkeit der Positionen nochmals in aller Schärfe gezeigt.

Holocaust-Vergleiche schüren die Emotionen

Dabei genügt auch hier ein Blick auf die Fakten. Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, die einen Einfluss von Ruder Finn auf die Interpretation des Bosnien-Kriegs in den Parametern des Holocaust belegen. Strittig ist die Frage, wie weit der Einfluss von PR gereicht hat. Das ist freilich schwer nachweisbar.

Der Chef von Ruder Finn, James Harff, hat die Wirkung seiner Arbeit natürlich als sehr hoch eingeschätzt. Dennoch sollte man dies nicht überbewerten, denn dass man bei bestimmten Verbrechen an die NS-Zeit denkt, ist durchaus naheliegend.

Zugleich gilt es angesichts zahlreicher Konflikte, Kriege und Massaker weltweit, genau hinzusehen und zu differenzieren, denn sonst wird der Begriff des Holocaust irgendwann inflationär. Die entscheidende Frage lautet: Können die serbischen Verbrechen im Bosnienkrieg in den Parametern des Holocaust beschrieben werden oder nicht? Und davon hing bzw. hängt bis heute die normative Betrachtung des Jugoslawienkriegs ab.

Verschwörungstheorie-Vorwurf als Totschlagargument

Problematisch ist, dass die Behauptung, eine Verschwörungstheorie zu unterstützen, keinen Erkenntnisgewinn bringt, sondern nur der Diskreditierung des Bezeichneten und der damit verbundenen Delegitimierung seiner Argumentation dient. Auf der semantischen Ebene genügt es nämlich, die verwendeten Argumente zu analysieren und zu schauen, auf welche Fakten sich jemand bezieht und welche Interpretationen er daraus ableitet.

Wenn man so vorgeht, unterliegt eine nur unzureichend auf Fakten basierende Meinung im Kampf der Argumente von selbst. Es ist nicht notwendig, den Sprecher anzugreifen und sein "intellektuelles Kapital" (Bourdieu) zu diskreditieren.

Was kann man aber tun, wenn eine andere, auf Fakten und Argumenten beruhende Meinung, analytisch nicht widerlegt werden kann? Dann müsste man sie in einer offenen Gesellschaft stehen lassen. Wenn man das trotzdem nicht will, kann man, wie The Intercept, zum argumentum ad hominem greifen und mittels Scheinargument "die Position oder These eines Streitgegners durch Angriff auf dessen persönliche Umstände oder Eigenschaften" anfechten mit der Absicht, "eine echte Diskussion zu vermeiden." Wer "Verschwörungstheorie" sagt, weicht auf die normative Seite aus, damit er sich auf der deskriptiven Ebene nicht den Fakten stellen muss.

Der in den 1990er Jahren entstandene und von manchen Journalisten nach wie vor aufrecht erhaltene Vergleich der "Nazi-Serben" disqualifiziert sich bei entsprechender Kenntnis der Shoa von selbst. Und auch wenn es reale Verschwörungen in der Geschichte immer wieder gegeben hat, so ist, wie der Historiker Michael Gehler (Anm. d. Red.: in einer E-Mail an den Verfasser) hinweist, der Vorwurf der "Verschwörungstheorie" ein Totschlagargument, bei dem man nicht mehr weiter argumentieren kann und es dabei auch bewenden lassen sollte.

Unseriöser Journalismus und fragwürdige Reaktionen aus der Wissenschaft

Trotzdem gaben vereinzelte Medien den unbegründeten Vorwurf von Maass unkommentiert wieder und verhalfen den Behauptungen damit zu größerer Reichweite. Im österreichischen Standard war Adelheid Wölfl nach einem Telefongespräch immerhin dazu bereit, meine Klarstellung in ihren Artikel zu integrieren. Ein Südosteuropa-Experte einer österreichischen Universität hingegen hat bis heute nicht auf mein Schreiben reagiert. Der Wissenschaftler, der auf Twitter rund 12.000 Follower hat, hatte dort geschrieben, dass Studenten, die für eine Arbeit auf Bücher wie meine Rezeptionsanalyse "Peter Handke und Gerechtigkeit für Serbien" zurückgriffen, bei ihm nicht bestehen würden.

Als ich das Rektorat der entsprechenden Universität auf diesen Post hinwies, kam als Antwort (Anm. d. Red.: E-Mail an den Verfasser), man wolle im Sinne der Freiheit der Wissenschaft und Forschung "weder den wissenschaftlichen Diskurs einer Disziplin einschränken noch sich in diesen einmischen".

So bleibt letzten Endes immer ein Schaden: Mein Wikipedia-Eintrag wurde nur einen Tag nach Erscheinen des Artikels im Intercept um den Hinweis ergänzt, dass mir die Verbreitung einer Verschwörungstheorie vorgeworfen werde. The Intercept weigert sich bis heute, meine auf Quellen hinweisende Gegendarstellung zu Maass‘ fragwürdigen Behauptungen zu veröffentlichen. Immerhin, durch die Erweiterung des Standard-Artikels fand meine eigene Sichtweise Eingang in den Wikipedia-Artikel. Und seit meine Gegendarstellung in Englisch, erweitert um eine längere deutschsprachige Kontextualisierung, veröffentlicht wurde, kann sich jeder ein differenziertes Bild des Ganzen machen.

Zurück bleibt die Erkenntnis, wie leicht man selbst als Wissenschaftler zwischen irgendwelche Fronten geraten kann. Erhellend war auch die Begründung, die mir eine Journalistin am Telefon auf meine Frage gab, warum sie mich denn nicht kontaktiert hatte, bevor sie die Behauptungen von Peter Maass übernommen hatte: "Ich habe ja nur referiert, dass der Intercept dies sagt. Ich selbst hätte gar nie die Zeit, das alles zu überprüfen."

Fazit

Die hochemotional geführte Debatte um die Nobelpreisvergabe an Peter Handke, aber auch die Reaktionen von Journalistinnen und Wissenschaftlern auf Positionen, die nicht der eigenen Sichtweise entsprechen, offenbare eine fragwürdige Debattenkultur. Zwar ist es menschlich, emotional zu reagieren. Aber für eine funktionierende offene Gesellschaft wäre es wichtig, gerade bei umstrittenen Themen eine sachliche und differenzierte Einschätzung und Analyse durch Journalisten und Wissenschaftlerinnen zu gewährleisten.

Denn dass außerhalb des Balkans ideologisch motivierte Stellvertreterkämpfe um die Deutungshoheit geführt werden, hilft weder den Menschen im ehemaligen Jugoslawien noch denjenigen außerhalb. Es sollte um Fakten gehen, um möglichst vorurteilslose und distanzierte Analyse von allem, was offengelegt ist. Denn genau hinzuschauen hat nichts mit Relativierung zu tun, sondern mit dem Bemühen, der Komplexität der Welt gerecht zu werden und diese entsprechend abzubilden.

Wenn es gelingt, auf diese sachliche Ebene zurückzukehren, hätte die Aufregung um Handke und den Nobelpreis immerhin noch etwas Gutes nach sich gezogen.

Zum Autor: Kurt Gritsch ist promovierter Zeithistoriker. Er ist Autor des Buches "Peter Handke und Gerechtigkeit für Serbien. Eine Rezeptionsgeschichte" (Studienverlag 2009) und weiterer Publikationen zur jugoslawischen Zeitgeschichte und zu internationalen Konflikten.