Zur Vertwitterung von Aufklärung

Seite 3: Tödliche Spektakel

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Aufmerksamkeitsökonomisch steht Afghanistan stattdessen auf ähnlicher Stufe wie das RTL Dschungel-Camp in Australien. Letzteres überführt die vorgeblich reale Hölle wieder in die imaginäre der Medien. Denn dieser pseudodarwinistisch aufgemotzte Dschungel ist vor allem darin real, Ekellust und Sadomasochismus des gewöhnlichen Fernseh-Publikums mit Trash-Bildern zu bedienen. Als Rainer Langhans sich dort im albernen Kakerlakensarg präsentierte, verriet er seine vormaligen Prinzipien – unabhängig von seiner buddhistischen „captatio benevolentiae“, sich der Prüfung nicht zu unterziehen, wenn Kakerlaken dabei zu Schaden kämen. Das Politische wird hier in eine Öffentlichkeit des müden Spektakels, der medialen Hybridität verwandelt, die offensichtlich keine Probleme hat, den realen Schrecken gegenüber dem grotesk inszenierten zu verdrängen.

Wie weit soll ich mich ausziehen.

Rainer Langhans

Dabei steht die Antwort doch längst fest. Wer in das Dschungel-Camp geht, zieht sich vollständig aus – für 50.000 Euro! „Das Spektakel überhaupt ist als konkrete Verkehrung des Lebens, die eigenständige Bewegung des Unlebendigen“, bescheinigte Guy Debord der Gesellschaft des Spektakels, die den Gesetzen des Fetischcharakters der Ware folgt, Produzenten und Konsumenten entlebendigt und die Dinge zu Wesen macht. In dieser noch so selbstgewissen Altkritik diente die wahre Welt noch als kritische Folie, deren kritischer Gebrauch sich nach zu langer Suche so erheblich abgenutzt hat, dass die Spannung zwischen Wirklichkeit und Glücksversprechen nicht zur fundamentalen Revision des alltäglichen Irrsinns führt, sondern sich eher in der Hoffnung auf einen vernünftigen Dispokredit erschöpft

Dabei ist die Entschärfung der Medien nicht auf ihre Wirklichkeitsverfehlung, sondern vielmehr ihren abledernden Dauereinsatz von Reizwörtern und Affektbildern zurückzuführen, der vormalige Betroffenheiten systematisch herunterfährt. Weder gegenüber dem Krieg als Alltagsgeschäft noch den Medien in ihrer Gleich-Gültigkeit lässt sich Zorn als Betriebsstoff der Weltgeschichte in dem Umfang konstatieren, der seinen zeitgeistigen Verschreibungen folgt. Zornig werden, heißt nach John Osborne, beteiligt zu sein.

Der Geschichte des Zorns steht jedoch gleichwertig und geschichtsmächtig die an Medien gekoppelte Geschichte der Müdigkeit, der Erschlaffung, des Desinteresses gegenüber. Dass diese Art von Kommunikationsdemontage einem Existenzverlust gleichkommt, wusste bereits Napoleon Bonaparte auf der anderen Seite des Machtkalküls:

Ich wirke nur auf die Einbildungskraft der Nation, sollte mir dieses Mittel fehlen, werde ich nichts mehr sein.

Napoleon

Die politische Sprache ist längst zum Sedativ für Demokraten verkommen, die ohnehin schon apathisch bis sozialautistisch ihr alltägliches Multitasking absolvieren. Die Empathie, ob nun als Nächsten- oder Fernstenliebe, leidet in der Vielzahl der Katastrophen. Zuletzt ist der Krieg nur noch ein bloßes Wort, so wie ein Schriftsteller offenbarte, man müsse nur fünfundzwanzig Mal hintereinander „Blumenkohl“ sagen, um zu vergessen, um was es sich überhaupt handelt. Fritz Mauthner brachte es 1906 auf diesen Punkt:

Und zum ersten Mal, seitdem Menschen sprechen gelernt haben, wäre es gut, wenn die Sprachen der Gesellschaft vorangingen mit ihrem Schuldbekenntnis, mit dem Eingeständnis ihrer Selbstmordsehnsucht. Um sich zu verständigen, haben die Menschen sprechen gelernt. Die Kultursprachen haben die Fähigkeit verloren, den Menschen über das Gröbste hinaus zur Verständigung zu dienen. Es wäre Zeit, wieder schweigen zu lernen.

Fritz Mauthner

Gegenüber dem Schweigen wäre eine politisch offensivere Variante geboten, gesellschaftliche Prioritäten nicht länger in der Zentrifuge des Aktuellen und der Null-Events verschwinden zu lassen. Tödliche Brustvergrößerungen, Unfälle bei „Wetten dass…“, Verstöße gegen Sicherheitsbestimmungen und Megakatastrophen werden weiterhin tendenziell äquivalent behandelt, was nicht einfach als verluderte Aufmerksamkeitsmoral gelten kann, sondern durch die mediale Strukturierung von Aktualität vorgegeben ist, die auf überforderte Zeitgenossen stößt, die für jeden Gedächtnisverlust dankbar sind.

Diese Öffentlichkeit wird als demokratische Instanz in dem Maße entwertet, in dem gesellschaftliche Prioritäten im Tagesspektakel, in der Facebookisierung der Freundschaft, in der Vertwitterung des Banalen zugeschüttet werden. Kriege sind der Skandal, nicht „casualties“ oder Minister, die goodwill-trips im früheren Hippie-Paradies mit Billigrausch einwerfen. Wenn die virtuelle Öffentlichkeit nicht lernt, ihre Erregungen besser zu organisieren und zu einer differenzierteren Kultur der Empörung zu gelangen, wird schwer anzugeben sein, mit welchem Betriebsstoff eine vitale Demokratie in Zukunft überhaupt noch zu betreiben ist.