Zwangsverwaltung HDP-geführter Rathäuser unter Anklage

Die Repressionen der türkischen Regierung beschäftigen derzeit mehrere UN- und EU-Gremien

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Repressionen der türkischen Regierung beschäftigen derzeit mehrere EU- und UN-Gremien. Während vor dem Europäischen Menschenrechtsrechtsgerichtshof (EMGR) über die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung des ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtas verhandelt wird, befasst sich der UN-Menschenrechtsrat in Genf mit der andauernden Absetzung gewählter HDP-Bürgermeister und Ersetzung durch Zwangsverwalter.

Willkürliche Verhaftungen mit fadenscheinigen Anschuldigungen gehören in der Türkei zur Tagesordnung. Mittlerweile werden schon Tweets aus dem Jahre 2012 herangezogen, wie im Falle der Verurteilung der CHP-Vorsitzenden in Istanbul, Canan Kaftanicioglu. Aber Erdogans Arm reicht bis nach Europa, denn die Fälle inhaftierter Oppositioneller im Ausland nehmen ebenfalls weiter zu.

An der UN-Konferenz, die von der AIDL (International Alliance for the Defense of the Peoples) gefördert wurde, nahm die abgesetzte Ko-Bürgermeisterin von Van, Bedia Ozgökce Ertan, per Videokonferenz teil, da sie - ohne richterliche Anordnung - an der Ausreise gehindert wurde. Ertan berichtete, dass die AKP-Zwangsverwalter alle von der HDP eröffneten Frauenzentren und Frauenhäuser geschlossen haben, um die Frauen wieder zurück an den Herd zu verbannen.

Sie forderte die Konferenz auf, endlich aktiv zu werden und die Türkei zur Einhaltung der Menschenrechte zu bewegen. Es müsse auch auf die türkische Regierung eingewirkt werden, um die Blockade für eine Lösung der Kurdenfrage zu beenden.

Leyla Imret, die ehemalige Bürgermeisterin von Cizre, die mittlerweile in Deutschland im Exil lebt und Ko-Vorsitzende der Berliner HDP ist, nahm ebenfalls an der Konferenz teil und erinnerte an die Belagerung und Zerstörung ihrer Stadt im Jahr 2015. Auch das Europaparlament befasste sich mit der Menschenrechtssituation in der Türkei und den Zwangsverwaltungen. Der grüne Europaabgeordnete Sergej Lagodinsky fordert in einer Rede im Europaparlament zu den Absetzungen der gewählten HDP - Bürgermeister von der Türkei "bedingungslosen Respekt für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit".

Doch davon ist die Türkei meilenweit entfernt. In den letzten Tagen ordneten die Gerichte mehrere hohe Haftstrafen wegen kritischen Beiträgen in den sozialen Medien an. Ein Beispiel ist Burhan Borak aus Van: Er wurde wegen sieben Beiträgen in sozialen Medien aus dem Jahr 2014 zu zwölf(!) Jahren und drei Monaten verurteilt.

EMGR verhandelt Freilassung von Demirtas in letzter Instanz

Schon im November 2018 hatte der EGMR (Az.: 14305/17) entschieden, dass die Türkei Demirtaş aus der Haft entlassen muss. Die Türkei erklärte den Beschluss für nicht bindend. Anfang September entschied ein Gericht in Ankara die Freilassung des prominenten inhaftierten Oppositionsführers.

Die Verteidigung des türkischen Staates übernahm der Völkerrechtler Stefan Talmon von der Universität Bonn. Talmon ist kein Unbekannter in Sachen Verteidigung der Türkei. 2015 verteidigte er als Vertreter der Türkei den Ultranationalisten Dogu Perincek gegen die Schweiz vor dem EMGR. Perincek wurde in der Schweiz wegen der Leugnung des Armenier-Genozids verurteilt.

Nun steht die Bonner Exzellenz-Universität in der Kritik. Im Bonner Generalanzeiger kritisiert Andreas Baumann, dass sich die Uni Bonn nicht unmissverständlich von der fragwürdigen Nebentätigkeit ihres Professors distanziert. Schließlich hätte die Bonner Universität noch vor drei Jahren einem Professor und einer Geisteswissenschaftlerin "Unterschlupf" gewährt, die vor dem Erdogan-Regime geflohen seien. Die Universität begründete ihr Engagement damals mit der Befürchtung, dass die beiden geflohenen Wissenschaftler "in ihrem Heimatland nicht mehr ungehindert ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit nachgehen können".

Und nun vertritt ein Professor dieser Universität die Türkei vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EMGR), um den HDP-Vorsitzenden Demirtas weiterhin in Haft behalten zu können. Wie geht das zusammen? Wie kann ein Professor für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht einer Excellenz-Universität einen autoritären Staat wie die Türkei vor dem EMGR vertreten, der schon 2018 entschieden hatte, dass Demirtas freigelassen werden muss? Der Hochschulratsvorsitzende Dieter Engels merkte ebenfalls kritisch an, Talmon habe der Universität "keinen Gefallen getan".

Der Bonner Redakteur des Generalanzeigers mahnt an, es sei an der Zeit, dass sich die Universität von dieser fragwürdigen Nebentätigkeit ihres Professors distanziere. Die in Göttingen ansässige Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) forderte ebenfalls die Hochschulleitung der Universität Bonn schriftlich auf, Talmon die Genehmigung für diese Nebentätigkeit zu entziehen. Der GfbV-Nahostexperte Kamal Sido erklärte gegenüber dem Bonner Generalanzeiger, "wer in führender Position Recht an der Universität Bonn lehre, könne nicht zugleich die Willkürjustiz eines autoritär geführten Staates vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verteidigen…".

Die Universitätsleitung berief sich darauf, dass die Nebentätigkeiten nicht im Rahmen der Professur stattfinden würden, sondern nebenberuflich. Eine Genehmigung der lediglich anzeigepflichtigen Tätigkeit liege vor. Trotzdem hätte sie die Möglichkeit gehabt, diese Nebentätigkeit zu verbieten, wenn sie "dem Ansehen der öffentlichen Verwaltung abträglich" sein könnte. Dies geht aus einem Merkblatt der Uni Köln hervor.

Verhaftungen im Ausland im Namen der Türkei

Immer wieder werden auch im Ausland oppositionelle türkische Staatsbürger über Interpol auf Ersuchen der Türkei festgesetzt. Jüngstes Beispiel ist der kurdische Psychologe Adnan O. Er hat die doppelte Staatsbürgerschaft und arbeitet als Psychologe in Hamburg und Hannover. Er befand sich gerade mit seiner Hannoveraner Freundin im Urlaub in Italien. Nun sitzt er in Mailand im Gefängnis wegen einer Red Notice aus der Türkei.

Am 21. September wurde die in Deutschland geborene Meral Ates in der Türkei verhaftet und ins Gefängnis nach Elazig verbracht. Freunde vermuten, dass sie ebenfalls wegen des Teilens von Tweets in sozialen Medien verhaftet wurde. Ihre Familie stammt ursprünglich aus Dersim, in Deutschland bekannt durch das Dersim-Massaker 1937/1938 an den alevitischen Kurden, dem Zehntausende zum Opfer fielen.

Meral war wie jedes Jahr zu Besuch bei ihren Verwandten in einem Dorf bei Dersim, als sie verhaftet wurde. Die Föderation der Dersim Gemeinden in Europa (FDG) fordert nun ihre Freilassung.

Seit fast zwei Monaten schon sitzt der Duisburger Ismet Kilic auf Ersuchen der Türkei in Slowenien in Auslieferungshaft. Kilic war mit seiner Familie auf der Urlaubsrückreise von Kroatien. Eine Freilassung gegen Kaution wurde von den slowenischen Behörden abgelehnt. Die Türkei wirft ihm Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vor - wie allen Oppositionellen. Kilic ist deutscher Staatsbürger und war bis zu den 1990er Jahren in der Türkei als Gewerkschafter aktiv.

Erst vor kurzem wurde bekannt, dass eine Deutsche wegen angeblicher Verbindungen zu Gülen zu sechs Jahren Haft in der Türkei verurteilt wurde. Die Kurdische Gemeinde in Deutschland, eine eher konservativ-liberale kurdische Organisation in Deutschland, berichtet auf ihrer Facebookseite von mehreren Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft und kurdischer Abstammung, die sich in EU-Ländern wie Österreich, Griechenland oder Slowenien aufgrund eines Ersuches der türkischen Regierung in Haft befinden.

Müßig zu erwähnen, was ihnen zur Last gelegt wird. "Sowohl das Auswärtige Amt aber auch die anderen EU-Länder dürfen nicht weiterhin tatenlos zusehen, wenn Deutsche und Bürger der EU von der Türkei willkürlich zur Fahndung ausgeschrieben, verhaftet und angeklagt werden", sagte Mehmet Tanriverdi, stellvertretender Vorsitzender der Kurdischen Gemeine in Deutschland. Das TV-Magazin FAKT berichtete unlängst von "Erdogans langem Arm", der bis in die türkischen Konsulate in Deutschland reicht. Dort wird Oppositionellen der konsularische Dienst verweigert, Pässe eingezogen oder nicht verlängert, Ausbürgerungs - Anträge nicht angenommen.

Für geflüchtete Oppositionelle, entlassene Wissenschaftler oder Journalisten bedeutet dies, dass sie z.B. keine deutsche Staatsbürgerschaft beantragen können, denn dafür müssen sie in der Türkei ausgebürgert sein. Oder sie haben unter Umständen ungültige Papiere, weil diese auf der türkischen Botschaft nicht verlängert werden. Die deutschen Behörden verschließen Augen und Ohren vor den Machenschaften der türkischen Regierung durch ihre Konsulate und verstecken sich hinter bürokratischen Floskeln.

Deutschland, Europa muss endlich umdenken und die Reformkräfte in der Türkei unterstützen, anstatt sich von einem Autokraten am Nasenring durch die Manege ziehen zu lassen. Umdenken heißt auch, sich aus dem Framing, die oppositionelle linke Partei HDP würde terroristische Organisationen unterstützen, zu befreien.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.