Zweierlei Maß
Ein an seiner Kleidung als Rabbiner erkennbarer Mann in Frankfurt wird auf offener Straße niedergestochen, wobei ihm sein deutscher Angreifer "Scheißjude, ich bringe dich um!" entgegenbrüllt. Man würde sich aufgrund von Tat und Ausdrucksweise vorstellen, dass diese Szene im Deutschland der Dreißiger Jahre spielt.
Aber leider spielt sie im Jahr 2007. Nicht nur die Tat an sich erschüttert, sondern auch die öffentliche Reaktion darauf: Da von vorneherein klar war, dass kein Skinhead oder sonstiger Neonazi im klassischen Sinn für den Angriff verantwortlich war, hielt sich die öffentliche Betroffenheit in Grenzen. Daran hat sich auch jetzt, da wir wissen, dass der afghanisch-stämmige Täter Inhaber eines deutschen Passes ist, wenig geändert.
Wer unprovoziert auf der Straße als „Scheißjude“ beleidigt und grundlos lebensgefährlich verletzt wird, für den dürfte die Unterscheidung zwischen einem grässlichen Neonazi und einem fehlgeleiteten Deutschen mit Migrationshintergrund kaum sehr wichtig sein. Für die Öffentlichkeit ist sie dies aber sehr wohl.
Ein Beispiel. Kaum ein Fall eines fremdenfeindlichen Übergriffs erzielte so viel Aufmerksamkeit wie der des lebensgefährlich verletzten Ermyas Mulugeta, der, wie eine Aufzeichnung des verbalen Streits auf der Mailbox seiner Frau bewies, von seinen Angreifern mehrfach als „Nigger“ beschimpft wurde. Doch in derselben Aufzeichnung war auch zu hören, wie das Opfer selbst den Streit vom Zaun brach, indem er seine Widersacher zunächst mit „Geh mal andersrum, ey, Schweinesau“ provozierte. Gisela Friedrichsen, Gerichtsreporterin des Spiegels fasste zusammen:
„Schon zu Beginn des Prozesses zeichnete sich ab, wie es damals zu der zunächst gravierenden Fehleinschätzung des Tatablaufs als eines rassistisch geprägten Überfalls kam. Es gibt keine Formel: Nimm zwei Deutsche und einen Farbigen und du weißt, wer das Opfer ist.“
Ermyas Mulugeta ist nicht der einzige Afrikaner, der ins Koma geprügelt wurde. Im Juni 2007 wurde ein 35-jähriger Mann aus Burkina Faso in der Berliner U-Bahn angegriffen. Einer seiner Widersacher schlug ihm so ins Gesicht, dass er rücklings aus der U-Bahn auf den Bahnsteig krachte, mit dem Hinterkopf aufschlug und mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Koma fiel. Noch nie von dieser Geschichte gehört? Es dürfte daran liegen, dass die drei Täter als „Araber oder Türken“ beschrieben werden, während die ersten Zeugenaussagen beim Fall Ermyas Mulugeta von „jungen Männern in Bomberjacken“ sprachen.
Auch dem grundlos oder wegen einer nichtigen Beleidigung ins Koma geprügelten Afrikaner und seiner Familien und Freunden dürfte es egal sein, ob seine Täter Bomberjackenträger oder „Türken oder Araber“ waren. Die sehr ungleiche Behandlung dieser Fälle beweist den Punkt: Bei der gesamten Diskussion geht es nicht um Opferschutz, sondern um deutsche Nabelschau.
Um zum Frankfurter Rabbiner zurückzukommen: Kein Politiker oder irgendeine andere Person in der Öffentlichkeit hat Maßnahmen gefordert, die künftig solche Attacken verhindern könnten, während sich im Gegensatz dazu bei neonazistischen Übergriffen die medienbewussten Politiker mit machbaren oder illusorischen Ideen überschlagen.
Dabei hat es wirklich zutiefst schockierend, wenn ein Rabbiner in Deutschland auf der Straße von einem Deutschen beinahe ungebracht wird, weil er Jude ist. Jede Form von Antisemitismus muss bekämpft werden, und nur die ideologisch Bornierten werden hier zwischen dem hausgemachten und dem importierten Antisemitismus trennen.
Die ganz spezielle Beziehung zu Israel und zum Judentum ist ein konstituierendes Element der deutschen Nachkriegsidentität. Daher ist es auch um so unverständlicher, dass bei der Einbürgerung dieser Bereich völlig ignoriert wird. Lediglich der viel gescholtene baden-württembergische Gesprächsleitfaden berücksichtigt dies in Punkt 27:
„Manche Leute machen die Juden für alles Böse in der Welt verantwortlich und behaupten sogar, sie steckten hinter den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York? Was halten Sie von solchen Behauptungen?“