Zwischen Faust und Hitler: Carlo Levis kritischer Blick auf Deutschland nach dem Krieg

Berlin, 1959. Blick in die wiederaufgebaute Rietzestraße im Stadtbezirk Prenzlauer Berg. Bild: Bundesarchiv, Bild 183-66685-0001 / CC-BY-SA 3.0 Deed
Deutschland 1959: Ein Land ohne Seele und Wurzeln? Ein italienischer Autor erkundet es von Dachau bis Berlin. Warum man sein Buch jetzt lesen muss.
Wäre doch das offenkundige Elend am Kriegsende länger erhalten geblieben, statt sich erneut in die verdammte Tüchtigkeit zu verkriechen, in der erneut Mordgedanken entstehen …
Herbert Achternbusch
Die ganze letzte Woche habe ich mich mit Carlo Levis gerade auf Deutsch im C.H. Beck-Verlag erschienenem Buch "Die doppelte Nacht" beschäftigt. Seit ich vor Jahren endlich sein Buch "Christus kam nur bis Eboli" gelesen habe, schätze ich Levi sehr.
Ein Mann mit Erfahrungen
In diesem Buch schildert er die Zeit, die er Mitte der 1930er Jahre – von den Faschisten in die Verbannung geschickt – in einem Dorf in den Bergen hinter Salerno verbrachte. Er kam aus dem industriellen Norden in den Mezzogiorno, in eine archaische Welt von Bauern, Hirten und Banditen. Die große Zeit der Räuber, die hier Briganten hießen, war gerade erst vorüber und bei den Leuten noch sehr lebendig.
Die Briganten waren die Racheengel der armen Leute und genossen deren Sympathien. Am Eingang seines Dorfes konnte man die Pfähle sehen, auf denen die Handlanger der Obrigkeit die Köpfe von getöteten Briganten aufgespießt hatten, damit sie noch als Tote als abschreckendes Beispiel dienten.
Schnell lernte er die Menschen lieben und sie ihn, und als er nach einer Weile begnadigt wurde, verließ er diese Gegend mit einer gewissen Wehmut.
Ein vielseitiger Mensch
Der 1902 in eine assimilierte und recht wohlhabende jüdische Familie hineingeborene Carlo Levi ist ein vielseitiger Mensch gewesen: Schriftsteller, Maler, Arzt und nicht zuletzt Ethnologe und engagierter Linker und Antifaschist.
Linker nicht in einem parteipolitisch und dogmatisch verengten, sondern in einem weiten, offenen Sinn, mit einem anarchisch-künstlerischen Einschlag, der ihn vor Vereinnahmung und Dogmatismus jeglicher Art schützte.
Unterwegs in Deutschland
Als eine literarisch-ethnologische Studie würde ich denn auch sein Buch "Die doppelte Nacht" bezeichnen. Doppelt ist die Nacht, weil auf die des Nationalsozialismus die seiner Verdrängung folgte. Die Asche von Auschwitz legte sich auf Deutschland und seine Bewohner.
Alle Idyllen, die er unterwegs sah, logen und waren "der Tumormarker des Verdrängten", wie Thomas Hettche treffend formuliert hat. "Faust und Hitler" war übrigens ein alternativer Titel für das Deutschlandbuch, den Levi eine Weile in Erwägung gezogen hatte.
Auf Einladung seines deutschen Verlages absolvierte Levi in der Vorweihnachtszeit des Jahres 1958 eine Deutschlandreise, die ihn von München über Augsburg, Ulm, Schwäbisch Hall und Tübingen nach Berlin führt.
Ein deutsches Ehepaar, das er in München kennengelernt hatte, nahm ihn in seinem Auto mit Richtung Stuttgart.
Ein Abstecher bei München
Levi bestand auf einem Abstecher nach Dachau, als er diesen Ortsnamen auf einem Hinweisschild an der Autobahn las. Er wollte seinen ermordeten Brüdern und Schwestern und Genossen seine Referenz erweisen.
Als wollte selbst das Wetter ein Bild heraufbeschwören, das in unseren Köpfen von der Geschichte festgeschrieben worden ist, wird der graue Himmel auf einen Schlag schwarz, es erhebt sich ein eisiger Wind, und wir werden von einem tosenden Schneesturm umfangen. … Wir gehen an einer Mauer entlang, die sich scheinbar ins Unendliche erstreckt und durch deren Öffnungen wir Baracken erkennen können. Es ist Dachau.
Carlo Levis, Die doppelte Nacht
Das Lager war nicht etwa menschenleer, sondern von Vertriebenen aus Schlesien bevölkert, die hier vorübergehend Aufnahme gefunden hatten. Levi interessierte sich für ihr Schicksal und unterhielt sich eine Weile mit einigen von ihnen.
Stuttgart
Dann fuhren sie weiter Richtung Augsburg, wo er die Fuggerei besichtigte. Verlagsangelegenheiten führten ihn nach Stuttgart. Dort notiert er:
Diese Einöde geschäftiger, arbeitsamer, pedantischer, ausdauernder Menschen, die ihren Blick so starr auf den Gegenstand ihrer Arbeit oder auf das Geld, deren Gegenstück und Sinnbild, gerichtet haben, dass sie nicht zurückblicken, nicht nach rechts oder links sehen können, beinahe heroisch in ihrer Eingeschränktheit, in einem Land, das ohne Seele oder Wurzeln wiederaufgebaut wurde, angefüllt mit Gebäuden, die aus Abscheu vor ihrem anonymen Aussehen eigentlich einstürzen müssten und die kein Fluss je narzisstisch spiegeln könnte …
Carlo Levis, Die doppelte Nacht
Berlin
Die letzte und wichtigste Station der Reise ist Berlin. Levi fliegt von Stuttgart aus und landet in Tempelhof. Er bezieht ein Zimmer in einem Hotel in Charlottenburg. Auf dem Nachttisch liegt eine Willkommenskarte und Stückchen Schokolade für ihn.
Am nächsten Morgen beginnt er mit der Erkundung der Stadt. Ihrem erblühenden Wohlstand wohnt, wie ihm scheint, etwas Melancholisches und Düsteres inne, "als sei er auf einer Leerstelle oder den Knochen der Toten errichtet worden".
Levis Blick auf die deutschen Verhältnisse ist und bleibt skeptisch. Er traut dem Frieden und den glitzernden Fassaden nicht. Tagelang pendelt er mit öffentlichen Verkehrsmitteln ruhelos zwischen West- und Ostberlin hin und her und durchstreift die beiden Teile Berlins, die noch nicht durch eine Mauer getrennt sind.
Jeder der beiden Teile hat jeweils das gewählt und kultiviert, was dem anderen fehlt und was er in der Folge von sich gewiesen hat.
Von einer erstaunlichen Aktualität und Hellsichtigkeit
Levi besucht Theater und Museen und ist fasziniert von der Statue der Nofretete.
Diese Königin stammt aus der fernsten Antike und hat ein Gesicht von heute.
Sie kündet ihm von einer Revolution, die die Knechtschaft der Frauen beenden wird. Das Berlin-Kapitel ist von einer erstaunlichen Aktualität und Hellsichtigkeit.
Seine Lektüre kann uns Hinweise auf die Genese bis in die Gegenwart fortwirkender Konflikte und Konstellationen geben. Im Spiegel der Vergangenheit können wir unsere Gegenwart klarer erkennen.
Görings Ruine
Zum Schluss und vielleicht auch als Höhepunkt seines Berlinbesuchs klettert er nachts in die Ruine eines Hauses, das einmal das prächtige Haus von Hermann Göring gewesen ist. Plötzlich überkommt es ihn und er pinkelt gegen die Mauer.
Ich tat das ganz automatisch, ohne jeglichen Hintergedanken: Aber noch im selben Moment wurde mir klar, dass Charlie Chaplin als Charlot mit seiner unvermeidlichen politischen Intuition sicherlich genau das Gleiche mit voller Absicht getan hätte.
Carlo Levis, Die doppelte Nacht
Am folgenden Tag verließ Levi das graue, kälteklirrende Berlin und kehrte nach Rom zurück, wo bereits die Mandelbäume blühten und die ersten Bienen summten. Gerade heute, da sich erneut Finsternis über Deutschland breitzumachen droht, ist Carlo Levis Reisebericht eine bedeutsame Lektüre.
Götz Eisenberg betreibt seit einigen Jahren unter dem Titel "Durchhalteprosa" einen eigenen Blog.