Treffen der Galionsfiguren: Von der Tugend, dagegen zu sein
Heute vor 75 Jahren besuchte Susan Sontag Thomas Mann – zwei Generationen politischer Schriftsteller. Was daran heute für uns wichtig ist.
I interrogated god that evening at six.
Susan Sontag, am 28.12.1949 in ihrem Tagebuch
In jenen Tagen, als das Wünschen noch geholfen hat und sich junge Frauen noch für alte weiße Männer interessierten, kam es genau heute vor 75 Jahren zu einer denkwürdigen Begegnung.
Die 16-jährige College-Studentin Susan Sontag fuhr, begleitet von zwei Freunden, in den vornehmen 1550 San Remo Drive in Pacific Palisades in Los Angeles und klingelte dort am späten Nachmittag in der Villa des 74-jährigen Nobelpreisträgers Thomas Mann in seinem kalifornischen Exil.
Der war seit zwei Jahren das Idol der 16-Jährigen, seit Sontag Manns "Zauberberg" in der englischen Erstausgabe in einem Zug begeistert gelesen und mit gründlichen Bleistiftanstreichungen und Kommentaren versehen hatte.
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Eine der einflussreichsten öffentlichen Intellektuellen
Für Sontag wurde der Besuch zum bedeutenden zweiten Schritt einer lebenslangen, intensiven Auseinandersetzung mit dem stets auch kritisch betrachteten Vorbild. Bis an ihr Lebensende blieb Mann für sie, die schon mit 14 Jahren auch Joseph Conrad, Franz Kafka und Marcel Proust gelesen hatte, der bedeutendste Schriftsteller von allen.
Noch ein gutes Jahr vor ihrem Tod, bei ihrer Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2003, bezeichnete sie den Zauberberg als "das wichtigste Buch meines Lebens".
Arrangiert hatte die Begegnung einer der Begleiter, ein Jugendfreund Sontags, der um deren "Zauberberg"-Begeisterung wusste. Sie selbst war viel zu schüchtern und ahnte auch bereits im Vorfeld, dass die Begegnung mit Personen, deren Werk man verehrte, nicht immer dem Druck der gesetzten Erwartungen standhalten kann.
So auch in diesem Fall. Im San Remo Drive gab es Tee und Kekse, Thomas Mann bat die drei Besucher in sein Arbeitszimmer und stellte sich höflich distanziert deren Fragen. "Nachmittags Interview mit 3 Chicagoer Studenten über den 'Magic Mountain'" – so lautete die kurze Notiz in seinem nächsten Tagebucheintrag.
Er konnte nicht ahnen, dass aus dem schüchternen Mädchen eine der einflussreichsten Denkerinnen und öffentlichen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts werden würde, die 15 Jahre später eine neue Form des Essayismus begründen würde.
"Halbwüchsige Jungen, nach ihrem ersten Bordellbesuch"
Sontag notierte detailfreudiger und akribischer:
Von 17.30 bis 17.55 saßen wir, starr vor Ehrfurcht, vor seinem Haus (1550 San Remo Drive) und übten schon einmal. Seine Frau, schmächtig, graues Gesicht und Haar, öffnete uns die Tür. Er saß am hinteren Ende eines großen Wohnzimmers auf der Couch und hielt einen großen schwarzen Hund am Halsband, den wir von draußen schon hatten bellen hören.
Beigefarbener Anzug, kastanienbraune Krawatte, weiße Schuhe – Füße zusammen, Knie auseinander – (Bauschan!) – Sehr beherrschtes Allerweltsgesicht, genau wie auf den Fotos.
Er führte uns in sein Arbeitszimmer (die Wände natürlich von Bücherregalen bedeckt) – seine Sprache ist langsam und präzise und sein Akzent nicht so stark, wie ich erwartet hatte – "Doch – o sagt uns, was das Orakel gesprochen" – "Zum "Zauberberg": "Vor 1914 begonnen und nach vielen Unterbrechungen 1934 abgeschlossen" – "ein pädagogisches Experiment" – "allegorisch" – "es ist ein Bildungsroman, wie alle deutschen Romane" – "Ich habe versucht, eine Summa aller Probleme zu geben, die sich Europa vor dem Ersten Weltkrieg stellten" – "Es geht darum, Fragen zu stellen, nicht Lösungen zu präsentieren – das wäre anmaßend".
Und nochmal: "All diese Bücher."
Sie war zunächst enttäuscht, später schämte sie sich zunehmend vor sich selbst. Diese Scham hat sie sich fast 40 Jahre später in einer literarisierten Nacherzählung des Gesprächs von der Seele geschrieben, die 1987 im "New Yorker" unter dem Titel "Pilgrimage" erschien – Pilgerfahrt.
"Ich meinte", heißt es da, "(und das ist der Teil meiner Erinnerung, den ich am rührendsten finde), dass Thomas Mann von meiner Dummheit verletzt werden könnte ..., dass Dummheit immer verletzend sei und dass, da ich Mann verehrte, es meine Pflicht sei, ihn vor dieser Verletzung zu schützen". Nachdem sie die Nobelpreisträgervilla wieder verlassen hatten, hätten sie sich gefühlt, wie "halbwüchsige Jungen, nach ihrem ersten Bordellbesuch".
"Wir leben regelrecht auf dem Zauberberg"
Aber hat dieses Treffen auch jenseits des Anekdotischen und der bemerkenswerten Geschichte, Bedeutung? Und welche?
Um das zu beantworten, muss man noch einmal auf den Ursprung des Besuchs zurückgehen: Den Roman "Der Zauberberg". Etwa zur gleichen Zeit des Mann-Besuchs entstand ein Text, der unveröffentlicht im Nachlass erhalten ist, aber womöglich an der Universität vorgetragen wurde: "At Thomas Manns"
Darin beschreibt Sontag ihr Leseerlebnis: Ein paar Wochen lang habe sie auf dem Zauberberg "gelebt": "We have really lived on the 'Magic Mountain'". Für Sontag, die das Buch weniger als emotionales Erweckungserlebnis las, sondern als "Ideenroman" im Geist des von ihr ebenfalls lebenslang verehrten Literaturwissenschaftlers und -kritikers Lionel Trilling, war der "Zauberberg" vor allem eine Begegnung mit der "Welt von Gestern", der Herkunftswelt ihrer aus dem alten Europa vertriebenen Familie.
Durch das Buch eignet sie sich den Kontinent Europa an und begegnet einem ihrer späteren Themen: der Krankheit als kultureller Metapher.
"Wo ich bin, ist Amerika"
Aber damit war es nicht getan: Schon in ihren ersten Notizen erwähnt Sontag das Äußere von Mann, seine Kleidung, sein sich-in-Szene-setzen, die Ähnlichkeit des Menschen mit seinen Fotos. Thomas Mann bildet für sie das Modell eines öffentlichen Intellektuellen, und wie er hat sie sich von Anfang an auch offensiv für die Kameras in Szene gesetzt – was sie von kritischen Nachdenken über das Medium Fotografie und das Betrachten der Bilder nicht abhielt.
Am wichtigsten aber ist die Vorbildrolle des Essayisten Thomas Mann, des eingreifenden, engagierten, zugleich immer distanzierten öffentlichen Intellektuellen. Eines Intellektuellen, der seine Rolle in der Pflicht zum Widerspruch begriff.
Auch für Mann gilt, dass er die Bedingungen der öffentlichen Debatte bestimmt hat, dass seine Texte – die über Politik, wie die über Kunst - die jeweilige Epoche zusammengefasst haben. Und Thomas Mann wie Susan Sontag haben im Zweifelsfall gegen diese Epoche gestanden und dem Zeitgeist Widerspruch entgegengebracht. Sie teilten das Wissen darum, dass das Dagegen-sein eine Tugend ist.
Gerade daraus erwuchs beiden moralische und politische Autorität. Sie wie Thomas Mann im Exil sehr bewusst und selbstbewusst formulierte: "Wo ich bin, ist Deutschland", so hätte auch Susan Sontag immer wieder – zur Zeit von Vietnam, von Watergate, von Aids, in Sarajewo und nach 9/11 und Abu Graib – formulieren können "Wo ich bin, ist Amerika".
Sie war, wie das US-amerikanische Magazin "Time" einmal schrieb "das öffentliche Gewissen Amerikas", oder wie Thomas Steinfeld in seinem Nachruf für die Süddeutsche Zeitung formulierte:
Repräsentantin amerikanischer Selbstkritik und Vermittlerin zwischen dem geistigen Leben in Europa und ihrer Heimat.
Genau hierin, zusammen mit dem uneingeschränkten Festhalten an der Bedeutung der Literatur selbst, liegen die Bezüge zwischen Thomas Mann und Susan Sontag.
Kein Mut zu Spekulation oder zur scharf zugespitzten These
Diese evidenten Bezüge und die persönliche Begegnung zwischen den beiden Autoren sind der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung bisher kaum der Erwähnung wert. Man bemerkt allenfalls die Bedeutung der Mann-Lektüre für Sontag, ohne aber weiter über deren Konsequenzen zu räsonnieren, und erwähnt mitunter den Besuch Sontags in Pacific Palisades.
Auch das einzige Buch zum Thema, die 2016 erschienene Untersuchung "Susan Sontag und Thomas Mann" vom Göttinger Literaturwissenschaftler Kai Sina hat bestenfalls den Charakter einer Fußnote.
Der dünne, kaum 100 Textseiten umfassende Band listet philologisch exakt, aber eher uninspiriert den Forschungsstand auf, untersucht die Lesespuren Sontags in deren im Nachlass vorhandenen Werken Thomas Manns und der dazugehörigen Sekundärliteratur und weist in mehreren Wiederholungsschleifen zum einen Sontags Vorstellung von Literatur und zum zweiten ihren Begriff der kulturellen Metaphorik von Krankheiten nach, und zeigt beider Niederschlag in Sontags Werk.
Insgesamt ist das Buch zwar bemüht, aber doch eine Enttäuschung, weil hier niemals über den Tellerrand des Belegbaren hinaus gedacht wird, und dem Autor jeder Mut zur Spekulation oder zu einer scharf zugespitzten These im Stil von Sontags Éssays fehlt.
Und weil Sina auch einigen selbst gelegten Spuren nicht wirklich nachgeht. Weil er offenkundige Verbindungslinien nicht zieht, wenn er etwa über Sontags Essay zu Georg Lukacs Buch zum Realismus bei Thomas Mann schreibt, aber nicht daran erinnert, dass Lukacs wahrscheinlich das Vorbild für die Figur des Naphta im Zauberberg war – was Sontag natürlich wusste.
Sina ist es auch nicht der Erwähnung wert, dass Sontag auf den Tag genau 55 Jahre nach diesem legendären Treffen, das ihr intellektuelles Leben prägen sollte, gestorben ist. Heute vor 20 Jahren.
Literatur:
Benjamin Moser: "Sontag - Die Biografie"; Penguin Verlag, München 2020
Kai Sina: "Susan Sontag und Thomas Mann"; Wallstein Verlag, Göttingen 2017